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Fremde Wasser

Fremde Wasser

Titel: Fremde Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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Crommschröder die informellen Strukturen des Konzerns. Vom Abteilungsleiter aufwärts
     scheint es zum guten Ton zu gehören, dass fast alle Vorgesetzten eine Liebschaft zu einer Angestellten im Konzern unterhalten.
     Sie fördern ihren Aufstieg, legen gute Worte bei Kollegen ein, und Crommschröder beobachtet die erstaunlichsten Karrieren,
     die auf diesem Weg zustande kommen und die schneller und besser funktionieren als jene, die sich über Leistung, Einsatz und
     Talent definieren. Er bezeichnet diese Karrieren insgeheim als die informelle Frauenförderung des Konzerns.
    Auch ihm werden Avancen gemacht. Kaum verhüllte Angebote, meist von verheirateten Frauen. Einmal kommt er unangemeldet in
     die Controllingabteilung und platzt mitten in den handgreiflichen Streit zweier Frauen, die sich in Stöckelschuhen und Kostüm
     gegenseitig an den Haaren ziehen. Er will wissen, was los ist, und nach einigem Hin und Her begreift er, dass dieser Streit
     allein darum ging, wer ihm eine Mappe mit angeforderten Unterlagen bringen darf.
    Doch wenn jeder seiner Abteilungsleiter eine Geliebte hat, braucht er zwei. Er meldet sich auf eine Kontaktanzeige, die in Zitty erscheint: »Affäre gesucht«. So lernt er Susan kennen, eine Blondine Ende dreißig, die nach einer oder mehreren Affären (da
     sind ihre Äußerungen unklar) sucht und schon beim ersten Gespräch Interesse an »außergewöhnlichem Sex« bekundet. Stefan verbringt
     rauschende Nächte mit ihr. Susan lässt keinen Zweifel daran, dass ihr seine Treue unwichtig ist. Sie will auf keinen Fall
     treu sein. Er sieht sie manchmal wöchentlich, manchmal nur alle vierzehn Tage – und glaubt nach einiger Zeit, süchtig nach
     ihr zu sein.
    Irene lernt er durch eine Kontaktanzeige kennen, die er selbst aufgegeben hat. Die Rolle als Geliebte passt ihr nicht.Nach drei Nächten will sie sich von ihm trennen. Sie tut es nicht, als er ein Haus am Kollwitzplatz kauft und sie in einem
     riesigen Loft wohnen lässt.
    Im Konzern ist er ein Lernender, der keine Fehler machen will, und aus diesem Grunde hält er sich zurück. Und wirkt gerade
     durch seine Zurückhaltung besonders kompetent und führungsstark.
    Manchmal versucht er zu verstehen, wieso es ausgerechnet ihn in dieses riesige Büro verschlagen hat und ausgerechnet er einen
     Vertrag mit 1,17 Millionen Euro Fixum bekommen hat. In den ersten beiden Jahren kommt er sich vor wie ein Hochstapler, und
     täglich rechnet er damit, dass er entlarvt, verhaftet und in einen Kerker geworfen wird. Davon handeln seine Träume.
    Doch bald glaubt er, dass ihm der Job und das viele Geld zustehen. Er beobachtet Joseph Waldner, den Österreicher, den er
     als seinen natürlichen Feind erkennt. Der hat keine Manieren, keinen Stil, isst wie ein Schwein, nimmt sich immer zuerst,
     nimmt sich immer am meisten, redet mit vollem Mund, kratzt sich bei Konferenzen zwischen den Beinen – primitiv wie ein Affe.
     Crommschröder hält ihn für so unzeitgemäß wie ein Kriegerdenkmal – und für genauso öde. Manchmal denkt er, dass nur Kieslow
     und er das Geheimnis des Managements begriffen haben: Tauschwert. Sie beide haben sich ganz dem Tauschwert verschrieben. Mit
     Waldner dagegen geht manchmal das Pferd durch, und er erzählt in Vorstandssitzungen über neue Masten, neue Relais, was die
     wieder können, verliert sich in technischen Details, redet sich in Begeisterung über neu erprobte Materialien und Techniken
     – der ganze beschissene Ingenieur kehrt sich dann nach außen. Gebrauchswertkram. Dann sehen sich Kieslow und er über den langen
     Konferenztisch hinweg an, und in diesem kurzen Einvernehmen mit seinem Chef liegt eine Glückseligkeit, die er sonst nirgendwo
     findet.
    Crommschröder legt sich sogar eine kleine Theorie zurecht,nach der es vollkommen folgerichtig ist, dass er und niemand anders in diesem Büro sitzt und 1,17 Millionen Euro verdient.
     Noch nie hat er einem Menschen von dieser Theorie erzählt, aber er glaubt an sie. Felsenfest. Der Mensch, das ist die Prämisse
     seiner Theorie, ist ein soziales Wesen. Er kann nur überleben, indem er mit anderen Menschen kooperiert, Unterkünfte baut,
     gemeinsam Land bewirtschaftet oder gemeinsam Lebensmittel produziert und Wohnstätten baut. Ohne Kooperation mit anderen ist
     der Einzelne verloren. Daher ist es ein jedem Menschen natürlich innewohnender Trieb, nützlich für die Gesellschaft zu sein.
    Er, Crommschröder, muss gegen diesen Trieb handeln, gegen die menschliche

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