Fremde Wasser
Natur.
Denn er nützt der Gesellschaft nicht, sondern gräbt ihr, im wahrsten Sinn des Wortes, das Wasser ab. Sein alleiniges Ziel
ist es, die Taschen der Aktionäre und seine eigenen zu füllen. Er muss daher in jeder Minute seines Lebens gegen den natürlichen
Instinkt handeln. Ihn immer unter Kontrolle halten. Er fühlt sich innerlich geradezu deformiert. Und dafür, so denkt er, sind
1,17 Millionen eine angemessene Entschädigung.
Ja, er verdient dieses Geld zu Recht. Es steht ihm zu. Die Unsicherheit des Anfangs ist verflogen. Er weiß, was das Verhältnis
von Gebrauchs- und Tauschwert letztlich bedeutet. Er hat sich entschieden. Er ist der Diener des Tauschwertes. Der Gebrauchswert
interessiert ihn nicht. Er handelt nicht mit Wasser – er macht Geld. Wenn es morgen Murmeln oder Brot oder genveränderte Stammzellen
sind – ihm ist es egal. Auf die Zahlen kommt es an. Hat Seitzle es ihm nicht beigebracht: Der Teufel scheißt immer auf den
größten Haufen?
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Nachrufe
Den Nachmittag verbrachte Dengler am Computer. Er wählte sich in die verschiedenen Nebenanschlüsse des Hauses seiner Zielperson
ein, aber er hörte nichts. Nicht einmal das geringste Geräusch.
Der älteste Sohn des verstorbenen Ehepaares betrieb seine Kanzlei in der Stuttgarter Olgastraße, mitten im Gerichtsviertel
der Stadt. Dengler räusperte sich und rief die Kanzlei an.
»Günther Doll und Partner«, meldete sich eine Frauenstimme.
»Beerdigungsinstitut Steinmetz. Steinmetz mein Name. Ich möchte Herrn Doll sprechen. Sie wissen schon.«
»O ja, natürlich. Einen Augenblick bitte.«
Pause.
Dann wieder die gleiche Frauenstimme: »Herr Doll telefoniert gerade. Könnten Sie es später ...«
»Würden Sie mir seine Durchwahl verraten? Dann muss ich Sie nicht erneut belästigen.«
»O ja, natürlich – die 10.«
Dengler dankte und legte auf.
Mit Hilfe des Programms wählte er sich in das Telefon des Anwalts ein, setzte den Kopfhörer auf und hörte über die Telefonleitung
zu, was im Büro passierte. Doll diktierte Schriftstücke. Offensichtlich arbeitete er alte Akten ab. Eine Stunde lang ging
das so. Dengler langweilte sich, und seine schlechte Laune kehrte zurück.
Doll diktierte Vertragstexte – Gesellschafterverträge zu GmbH-Gründungen, Kaufverträge, Abtretungserklärungen und erneut Gesellschafterverträge
–, und Georg Dengler überdachte seinen neuen Fall. Während in seinem Ohr Doll monoton Paragraph an Paragraph reihte, rief
Georg dieSuchmaschine auf und ließ sich alle Pressetexte auflisten, die vom Tod der Abgeordneten Angelika Schöllkopf berichteten. Er
fand auch einige Fotos. An eines erinnerte er sich, er hatte es in verschiedenen Zeitungen gesehen. Die Abgeordnete lag neben
dem Rednerpult, das ihre Füße verdeckte. Ein weißes Blatt lag neben ihr, ein anderes etwas entfernt neben ihrer Linken, die
zu einer Faust verkrampft war. Hinter ihr war der stellvertretende Präsident aufgesprungen, ein Mann mit rotem Vollbart, der
aussah, als habe man Rübezahl in einen teuren Anzug gesteckt, und starrte mit geöffnetem Mund in die Kamera. Ein Saaldiener
im Frack beugte sich über die Tote. Die Abgeordneten in der ersten Reihe waren aufgesprungen. Das Bild mit der liegenden Toten
vereinte Bewegung und Stillstand zu einer eigentümlichen Komposition.
Er las die Nachrufe. Angelika Schöllkopf war vor sechs Jahren als Nachrückerin in den Bundestag eingezogen. Ihr Vorgänger
hatte sein Mandat aufgegeben, nachdem die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren im Rahmen des Berliner Bankenskandals
gegen ihn eröffnet hatte. Bei der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 eroberte sie den Wahlkreis zum ersten Mal direkt für die
konservative Partei. Auf der Landesliste saß sie auf einem schlechten Platz. Dies ließ darauf schließen, dass sie in ihrer
Partei nicht sonderlich angesehen war.
Schöllkopf war Mitglied im Ausschuss für Gesundheit, für Frauen, Jugend und Kultur. Unauffällig. Die Wochenzeitung Freitag widmete ihr einen Nachruf mit dem Titel Tod einer Hinterbänklerin. Sie sei eine der angepassten Frauen gewesen, die der Fraktionsgeschäftsführung niemals Sorgen bereitet hätte, hieß es da.
Man soll über Tote nicht schlecht reden. Aber die Abgeordnete Schöllkopf fügte sich so nahtlos in das Management der Fraktion,
dass sie sich wahrscheinlich geehrt gefühlt hätte, wenn sie als die leibhaftig gewordene Fraktionsdisziplin bezeichnet worden
wäre.
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