Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
Vom Netzwerk:
waren, blieb er auf der Treppenstufe stehen, um die aufeinanderfolgenden gedämpften Stöße der Tür abzu warten, die hinter ihnen abgeschlossen und verriegelt wurde. Dann setzte er seinen Hut auf, schräg und tief in die Stirn gezogen, und sogleich wirkte er charmant, beinahe spitzbübisch. Seine wachsamen grauen Augen, vom Hutrand verschattet, blickten auf einmal vorwitzig. Und mit einer kleinen Verbeugung, einem fragenden Zögern – als erwartete er, dass Paul seinen Arm nahm – stiegen sie den abschüssigen Marktplatz hinauf. Paul griff beflissen nach seiner Aktentasche, während sich Mr Keeping mit seinem Regenmantel überm Arm wie ein mäßig neugieriger Besucher der Stadt gebärdete.
    Es wäre Paul lieber gewesen, Geoff hätte ihm Mr Keepings psychische Probleme verschwiegen; gleichzeitig plagte ihn die Unsicherheit, ob Mr Keeping damit rechnete, dass er darüber Bescheid wusste. Er lächelte abwesend, nahm die scheinbar aufmerksam betrachteten Geschäfte und Menschen um ihn herum in Wirklichkeit gar nicht wahr. Die Idee, diesen Spaziergang als Gelegenheit zu nutzen, sich beim Direktor lieb Kind zu machen, wurde durch die Befürchtung, man habe ihn ausgewählt, damit er sich eine Strafpredigt oder ein paar peinlich aufmunternde Worte abholte, zunichtegemacht. Am anderen Ende des Platzes sah er Hannah Gearing den Bus nach Shrivenham besteigen, als wollte sie Paul damit endgültig seinem Schicksal überlassen. »Und wie geht es Ihrer Mutter?«, sagte Mr Keeping.
    »Danke, Sir«, sagte Paul. »Sie kommt ganz gut zurecht.«
    »Ich hoffe, sie schafft es unter der Woche ohne Sie.«
    »Meine Tante wohnt in der Nähe. Eigentlich ist es kein Problem.« Er war erleichtert, doch die freundlichen Nachfragen verwirrten ihn auch. »Wir haben uns daran gewöhnt.«
    »Schreckliche Sache«, sagte Mr Keeping und lüpfte murmelnd und mit einem verstörenden Lächeln vor einer entge genkommenden Dame den Hut, als wollte er damit zu verstehen geben, er wisse genau, um welche Summe sie ihr Konto überzogen hat.
    Sie gelangten in den ruhigeren Abschnitt des Church Walk mit seinen Türoberlichtern, Eingangsgeländern und Spitzengardinen in den Fenstern. Noch vor einer Woche hatte Paul keine Menschenseele in der Stadt gekannt, jetzt war er über den Schalter, durch das kleine Mahagonitörchen an seinem Platz, zu Hunderten von ihnen in eine eigenartig privilegierte, bittere Beziehung getreten. Er war ihr Diener und auch ein Schiedsrichter, ein fremder junger Mann, dem sie intime Einblicke in einen bestimmten Bereich ihres Lebens gewährten, wie viel Geld sie hatten und wie viel sie haben wollten. Er verkehrte höflich mit ihnen, handelte in stillschweigendem Einvernehmen, stummer Verlegenheit den Kredit aus, die »Vereinbarung«. Jetzt warf er einen Blick in den Church Walk, auf graue Schleier aus Vorhängen, den Glanz polierter Tische, Porzellan, Uhren – und bekam eine Ahnung von der Reichweite der »Vereinbarungen« bis tief in die Schatten der Räume und Jahre. Mr Keeping sagte weiter nichts, das Schweigen schien ihm ganz recht zu sein.
    Gegenüber der Kirche bogen sie in eine unbefestigte Straße, Glebe Lane, ein, auf der einen Seite größere Häuser, auf der anderen ein freier Blick über eine Hecke hinweg auf Felder. Lange dornige Hagebuttenstränge wiegten sich entlang der Hecke im Wind. Die Straße hatte eine ganz eigene Atmosphäre, exklusiv und ein wenig vernachlässigt. Kaum zu glauben, dass das Stadtzentrum nur zwei Minuten entfernt sein sollte. Entlang der Bankette wuchsen büschelweise Gras und Gänseblümchen. Durch Toreinfahrten erspähte Paul kastenartige Villen, die hinter geschwungenen Kieswegen, inmitten großer Gärten, standen, dazwischen eingeklemmt hier und da bescheidenere moderne Häuser – »The Orchard«, »The Cottage«. »Das ist eine Privatstraße, Paul«, verfiel Mr Keeping wieder in seinen ironischen Ton, »daher die unzähligen Schlaglöcher und der Wildwuchs. Ich rate Ihnen, hier nicht mit einem Automobil entlangzufahren.« Das könne ihm Paul mit ziemlicher Sicherheit versprechen, meinte er. »Da wären wir …« Sie betraten die Auffahrt des vorletzten Hauses; die Straße fiel hier bereits ab und wurde schmaler, als wollte sie sich in den angrenzenden Feldern verflüchtigen.
    Das Haus war eine von den stattlichen grauen Villen, mit Panoramafenstern zu beiden Seiten des Eingangs, darüber in Gips sein viktorianischer Name »Carraveen«. Die Tür stand sperrangelweit offen, als hätte das Haus

Weitere Kostenlose Bücher