Fremden Kind
und rief: »Hallo, Onkel George!«, und schob mit gequälter Heiterkeit »Tante Madeleine …« hinterher.
Paul stütze sich mit einer Hand an der Kante des von der Sonne erhitzten Autodaches ab und beugte sich lächelnd hinunter zum geöffneten Fenster. Onkel George auf dem Beifahrersitz war ein Mann in den Siebzigern mit sonnenverbranntem Schädel und gestutztem weißem Bart. Die Frau am Steuer lehnte sich über ihn und reckte den Hals, sie hatte ein starkes Kinn, krause, graue Haare und trug ein sonderbar grelles Make-up und Ohrringe. Onkel George trug ein dunkelrotes Hemd mit einer blumengemusterten grünen Fliege. Er blinzelte Paul an, fest entschlossen, das Rätsel seiner Identität ohne fremde Hilfe zu lösen. »Und wer bist du noch mal?«, sagte er.
»Äh …«, sagte Paul.
»Er gehört nicht dazu«, sagte Tante Madeleine spitz.
»Oder?«
»Bist du nicht einer von Corinnas Jungen?«
»Nein, Sir. Ich bin … Ich bin nur ein Kollege, ein Freund …«
»Corinnas Jungen wirst du doch wohl noch erkennen«, sagte Madeleine.
»Verzeihung, ich dachte, Sie wären vielleicht Julian.«
»Nein«, sagte Paul mit einem Schnauben und dem dumpfen Gefühl, sich dagegen verwahren zu müssen, für einen Schuljungen gehalten zu werden, und wenn er noch so hübsch und charmant war.
»Und wer war das?«, sagte Paul, nachdem er sie auf das Feld gegenüber geschickt hatte.
»Das war Onkel George, Grannys Bruder. Eigentlich hatte sie zwei Brüder, der andere wurde im Krieg getötet – ich meine, im Ersten Weltkrieg. Onkel Hubert. Fragen Sie sie mal danach, wenn Sie sich für den Ersten Weltkrieg interessieren. Onkel George und Tante Madeleine waren früher beide Professor für Geschichte. Sie haben ein ziemlich bekanntes Buch geschrieben, Englische Alltagsgeschichte «, sagte Jenny und hätte vor lauter beiläufigem Stolz beinahe gegähnt.
»Ach – doch nicht etwa G . F. Sawle?«
»Doch, genau der …«
»Na, so was! G. F. Sawle und Madeleine Sawle! Das war Schullektüre.«
»Sehen Sie!«
Paul hatte die Titelseite noch vor Augen, um die beiden Namen G. F. SAWLE und MADELEINE SAWLE hatte er ein kompliziertes elisabethanisches Muster gemalt.
»Sind alle in Ihrer Familie berühmte Schriftsteller?«
Jenny gluckste. »Granny fehlt noch, sie schreibt gerade ihre Memoiren …«
»Ja, ich weiß, das hat sie mir erzählt.«
»Aber an denen sitzt sie schon ewig und drei Tage. Wir fragen uns alle, ob sie überhaupt je das Licht der Welt erblicken werden.«
Paul trank einen Schluck von seinem Fruit Cup, ihm war in der Abendsonne schon etwas schummerig geworden. »Sie nehmen mir das hoffentlich nicht übel, aber ich finde Ihre Familienverhältnisse ganz schön verzwickt.«
»Ich hatte Sie vorgewarnt.«
»Ich weiß ja nicht … aber gibt es zum Beispiel auch einen Mr Jacobs?«
»Tot, leider. In der Beziehung hatte Granny immer Pech«, sagte Jenny, als hätte sie es miterlebt. »Zuerst hat sie Dudley geheiratet, vermutlich ein faszinierender Mensch, aber auch ein bisschen aus der Bahn geworfen durch den Krieg und hundsgemein zu ihr. Dann ist sie durchgebrannt mit … meinem Großvater.« Sie trank einen Schluck – was immer ihr Glas enthielt.
»Wie hieß der doch gleich? Ralph …?«
»Revel Ralph, der Künstler, den alle für schwul hielten. Aber irgendwie haben die beiden es geschafft, meinen Vater zu zeugen … Und nach einiger Zeit …«
»Wirklich?« , sagte Paul, als fände er das amüsant und erfreulich, wandte sich ab, das Gesicht brandrot bei der plötzlichen Eruption von schwul, des Wortes und der Tatsache … überhaupt, eher eine beiläufige Eruption, als würde sich niemand daran stören. Den alle für schwul hielten . Gott sei Dank, da kam ein Auto, hoffentlich wollte es zum Haus Carraveen. Er sah ihm liebevoll entgegen, gastfreundlich, ignorierte seine Schamröte, hoffte sehnlichst, sie würde von selbst verschwinden. Ein erbsengrüner Hillman Imp röhrte im ersten Gang heran, die Windschutzscheibe weiß vor Staub, das Auto eines Farmers vermutlich, die Blenden gegen die grelle Sonne im Gesicht des Fahrers heruntergeklappt. Ungeduldig verfolgte Paul, wie es sich näherte, betrachtete mit geradezu kameradschaftlichen Gefühlen die großen Hände am Steuerrad, die krause Nase, das unfreiwillige Grinsen des Mannes, der die wartende Gestalt vermutlich nur schemenhaft erkennen konnte, und sah dann, während sich in seinem Gedächtnis das erinnerte Geschehen justierte, dass es Peter Rowe war. Irgendein Zauber
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