Fremden Kind
sie blieben Schreckgespenster und hinterließen neugierige und verdutzte Gesichter am Tisch.
»Ich hatte es vor einigen Wochen schon mal angesprochen«, sagte Neil McAll, »aber meinen Sie nicht, dass es allmählich Zeit wird für einen Sexualkundeunterricht, zumindest in der fünften und sechsten Klasse?«
»Wie Sie wissen, habe ich mit dem Schulbeirat darüber gesprochen, und dort hält man es nicht für wünschenswert«, sagte der Direktor ausweichend.
»Die Eltern wollen es nicht«, sagte die Hausmutter unversöhnlicher. »Und die Jungen auch nicht.« Sie blickten beide finster wie ein urkomisches Paar, sodass Peter sich unwillkürlich fragte, ob sie selbst vollständig aufgeklärt waren. Auf obszönen Zeichnungen der größeren unter den Jungen sah man sie manchmal ineinander verkeilt, doch war sich Peter ziemlich sicher, dass sie beide noch Jungfrauen waren. Ihre Starrsinnigkeit in dieser Sache war schon sonderbar, angesichts der langen Tradition des vertraulichen Gesprächs. Und so schlitterten die Jungen in die Pubertät: ein Kuddelmuddel aus Hörensagen und Experiment, gespeist von aufreizenden Fotos nackter Stammesfrauen im National Geographic, von schmierigen Romanheftchen und kunstvoll retuschierten Fotos in Zeitschriften.
Zufällig hatte sich Peter für die Freistunde danach mit Corinna Keeping verabredet, ein Treffen, das jetzt in gewisser Weise überschattet war. Er bezweifelte sehr, dass er sie auf die Bestrafung des Schülers ansprechen würde. Das vierhändige Klavierspiel mit Corinna hatte unbestreitbar etwas Intimes. Auf dem Stuhl neben ihr spürte er die Festigkeit ihres Körpers, den in ein Korsett geschnürten Rumpf, die harte Brust, und wenn sie mit den Händen weit ausgreifen mussten oder die Arme sich über der Tastatur kreuzten, schwangen ihre Hüften im Takt. Als sekundierender Spieler blieb die Pedalarbeit ihm überlassen, doch gelegentlich, als müsste sie gegen den Impuls ankämpfen, selbst das Pedal zu treten, stieß sie gegen seine Beine. Der Kontakt war rein technischer Natur, wie beim Sport, und nicht mit anderen Arten der Berührung zu verwechseln. Dennoch hatte er den Eindruck, dass sie ihn genoss; offenbar gefiel ihr die geschäftsmäßige Strenge, die alles Sexuelle ausschloss, ebenso wie der winzige unaussprechliche Anteil, der es mit einschloss. Nach jeder Übungsstunde fand sich ein Duftgemisch aus Zigarettenqualm und Maiglöckchen auf seinem Hemd. Er verfolgte keinerlei Absichten mit diesen Stunden, auch wenn er naturgemäß gern flirtete, doch fand er, ohne groß darüber nachzudenken, dass sie ihm auf angenehme Weise einen Menschen näherbrachten, der allgemein als Drachen galt.
Sie wartete im Musikzimmer, wo sie Donaldson aus der siebten Klasse gerade Unterricht gegeben hatte. »Aha, gut gemacht. Sie sind entkommen«, begrüßte sie ihn verschmitzt, blies den letzten Zigarettenrauch in die Luft und drückte die Kippe am Rand des Papierkorbs aus. »Haben die alten Langweiler Sie ziehen lassen.«
Peter grinste nur, zog sein Jackett aus und öffnete reflexartig ein Fenster. Es war noch zu früh, um sie auf ihre Übergriffe anzusprechen, und jetzt, da sie vor ihm stand, sah er auch, dass ein Kommentar zur Pornografiedebatte auf der Lehrerkonferenz, der ihm auf der Zunge gelegen hatte, sie wohl kaum erheitern würde. Stattdessen sagte er nur: »Viel Theater um den Tag der offenen Tür, wie Sie sich vorstellen können.«
»Kann ich«, sagte sie und zog eine ihrer steifen schwarzen Augenbrauen hoch. »Obwohl ich ja zu diesen hochwichtigen Konferenzen nicht eingeladen bin … Sie können einem leidtun, Ihre Zeit mit so etwas vergeuden zu müssen.« Sie hatte eine durchtriebene Art, ihn hinter dem Rücken der Kollegen für sich einzunehmen. Vermutlich war es der gekränkte Stolz, in das Haus ihrer Kindheit zurückzukehren, um Musik zu unterrichten. Einmal hatte er sie gefragt, was früher in dem heutigen Musikzimmer gewesen war: anscheinend das Zimmer der Haushälterin, und in der Krankenstube nebenan das Zimmer der Köchin. »Haben Sie sich die Gerald-Berners-Noten mal angesehen?«
»Ich habe sie gründlich studiert«, sagte Peter.
»Ziemlich kurioses Stück, nicht?«, sagte Corinna. »Mutter wird begeistert sein, sie hat Gerald angebetet.«
»Ich bin nur froh, dass Sie mir die beiden anderen Morceaux erspart haben.« Sie übten nur das einfachere Mittelstück ein, die »Valse sentimentale«.
Corinna stellte das Notenheft auf den Ständer. »Kennen Sie noch andere
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