Fremden Kind
Sawles mussten doch merken, was vor sich ging. Überhaupt, er mochte »Träumende Soldaten« noch so gut auswendig können, die Sawles sahen das aus einem ganz anderen Blickwinkel, dem der Familie, der familiären Geschichten und Beziehungen. Er drückte sein Bein fest gegen Peters, das war ihm jetzt wichtiger. Er griff wieder nach seinem Glas und trank mit ernster Miene, um seine Verwirrung zu überdecken, dachte gleichzeitig, er sollte nicht so hastig trinken, und spürte doch, dass alldem etwas Schicksalhaftes und Unwidersteh liches innewohnte. Verstreut über die Festgesellschaft, von den herabhängenden Buchenwedeln halb verdeckt, flackerten jetzt auf jedem Tisch Kerzen im Halbdunkel auf. Der Blättervorhang hob sich und Julian erschien, in der Hand eine kleine weiße brennende Kerze in einem Gefäß. »Bitte schön, Großonkel George!«, sagte er, langte über Madeleines Schulter und stellte die Kerze auf den Tisch, und die sich rasch beruhigende Flamme erleuchtete sein seidiges Gesicht, die braunen Augen und den glatten Pony. Paul spürte, wie Peter durch wachsenden Druck auf sein Knie erneut Aufmerksamkeit forderte, während sie alle zärtlich zu Julian aufschauten. »Ist dir das auch recht hier unterm Baum? Du solltest drinnen bei Gran sitzen«, sagte er zu Sawle. Seine Stimme klang trotz seiner siebzehn Jahre noch jungenhaft rau. Er stand lächelnd da, in der heiteren Gewissheit, dass er sich seinen würdigen alten Verwandten gegenüber gut benahm und auch noch nach einigen Gläsern unbeschwert an die Anstandsregeln hielt.
»Ach, weißt du, wir erwarten keine Vorzugsbehandlung«, erwiderte George Sawle mit sanfter Ironie.
»Ich weiß nicht, ob es nur mir so geht«, sagte Peter ruhig und blickte dem sich entfernenden Julian hinterher, »aber ich fand dieses Büchlein von Stokes eigentlich unlesbar.«
Sawle lachte gackernd. »Alles in allem eine bedauerliche Publikation.«
»Oh, bin ich aber froh, dass ich mich nicht geirrt habe.«
»Ja, nicht …!« Sawle sah Peter in beneidenswertem, gegenseitigem Einvernehmen an. In Pauls Ohren klang das wie eine eigene Sprache, Oxford und Cambridge in einem.
»Eine richtige Lebensbeschreibung gibt es bis heute nicht, oder?«, sagte Peter.
»Für eine ausführliche Biografie reicht es eben nicht, nehme ich an«, sagte Sawle. »Ehrlich gesagt: Ich habe den guten Cecil auf dem Gewissen.«
»So etwas hast du gar nicht nötig, George«, sagte seine Frau.
Sawle räusperte sich. »Eigentlich hätte ich schon vor einiger Zeit eine Ausgabe seiner Briefe im Verlag abliefern sollen.«
»Ach, tatsächlich?«, sagte Peter.
»Louisa hatte mich ursprünglich darum gebeten, irgendwann – ach, Gott –, irgendwann nach dem Krieg. Louisa, seine Mutter.«
»Dann ist sie wohl sehr alt geworden«, sagte Peter.
»Über achtzig«, sagte Sawle mit der schwebenden Empfindsamkeit eines Menschen, der sich selbst diesem Alter näherte. »Sie war ein äußerst schwieriger Mensch und machte einen Kult um Cecil. Aus einem sehr unangenehmen Anlass lud sie mich ein, um alles zu besprechen, und es war wieder ganz so wie damals, als die Ausgabe der Gedichte vorbereitet wurde. Sie lebte da schon nicht mehr auf Corley Court, sie war nach Stanford-in-the-Vale gezogen. ›Wir legen einfach alle Briefe aus und entscheiden, welche aufgenommen werden‹, das war ihr Vorschlag. Unter solchen Bedingungen kann kein Herausgeber arbeiten. Ich wusste, dass ich bis nach ihrem Tod damit warten musste.«
»Warte damit, solange du willst, Darling«, sagte Mrs Sawle. »Du überforderst dich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand sehnsüchtig auf diese Briefe wartet.«
»Ach, manche sind wunderschön, meine Liebe, die Briefe aus dem Krieg zum Beispiel. Aber natürlich hatte Louisa keine Ahnung, was in den Briefen an seine männlichen Freunde stand.«
»Irgendwelche Anzüglichkeiten?«
Sawle sah seine Frau um Nachsicht bittend an, gab aber keine klare Antwort. »Ich glaube, es wird noch alles Mögliche ans Tageslicht kommen, meinen Sie nicht. Erst kürzlich sprach ich mit jemandem über Strachey.«
»Den müssen Sie dann wohl auch gekannt haben«, sagte Peter.
»Ach, nur oberflächlich.«
»Strachey mochtest du nicht so gerne, oder, George?«, sagte Madeleine Sawle und belauerte wieder skeptisch den Teller ihres Mannes.
»Dieser junge Mann … Hopkirk.« Sawle sah seine Frau an.
»Holroyd«, sagte sie.
»Der wird uns bald alles über den guten alten Lytton erzählen.«
»Ich kann es kaum
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