Fremden Kind
Vorfeld des Generalstreiks überschattet war. Über dieses Wochenende auf Corley hatte Paul sich vorgenommen, Daphne persönlich zu befragen, sollte ihm je eine Audienz bei ihr gewährt werden. Es schien ein bedeutungsvoller Moment gewesen zu sein, eine unwiederbringliche Zusammenkunft, bei der Cecil im Mittelpunkt gestanden hatte und bei der er zu gerne selbst zugegen gewesen wäre. Parfitt hatte von seinem Gutshaus in Dorset aus in einer zierlichen kursiven Handschrift umgehend geantwortet, er wisse von keinen bedeutenden Funden, wünschte ihm aber von Herzen viel Erfolg, um dann raffiniert den vernichtenden abschließenden Satz anzuhängen: »Sicher stehen Sie auch in Kontakt mit Dr. Nigel Dupont, von Sussex, der mir im Zusammenhang mit seiner Arbeit über den immer wieder aufs Neue faszinierenden Cecil ebenfalls geschrieben hat.«
Paul war ziemlich niedergeschlagen, als er davon erfuhr, wusste aber auch nicht, was er deswegen unternehmen sollte. Unwillkürlich kam ihm der Gedanke, dass dieser Dr. Dupont wahrscheinlich der ernste »nette junge Mann« gewesen war, den Daphne auf der Party am Bedford Square kennengelernt hatte und der sie nach Cecil ausgefragt hatte. Und »von Sussex« bedeutete vermutlich von der Sussex University, nicht, dass er in dem County Sussex wohnte. Bestimmt ein ehrgeiziger junger Akademiker, wahrscheinlich Engländer, aber ausgestattet mit einem unberechenbaren Element gallischer Überheblichkeit und Hunger nach Theorie. Schrieb er etwa auch an einer Biografie über Cecil? Es hätte Mittel und Wege gegeben, das herauszufinden, doch Paul wollte keinen dieser Wege gehen. Lieber sah er sich auf irgendeiner Party, auf der er seinem Rivalen vorgestellt würde – an dieser Stelle geriet die Szene allerdings ins Stocken und verlor sich im Nebel seiner Ahnungslosigkeit und Angst. Es kam ihm so vor, als würde der »immer wieder aufs Neue faszinierende Cecil« in seiner ganzen Boshaftigkeit und Selbstgefälligkeit seine beiden Biografen anfeuern, als spräche er durch »Lara« zu ihnen.
In Tooting Graveney lebte man Seite an Seite mit den Toten. Karen, Pauls Vermieterin und Komplizin bei seinem, wie sie es nannte, »Cecil-Job«, arbeitete in Peel’s Bookshop in Putney und las alles Mögliche, hauptsächlich in Form ziemlich langweilig aussehender, aber gebundener, »nur für den internen Gebrauch« zu verwendender Druckfahnen, lange bevor sie als Bücher erschienen. Während der neun Monate als ihr Untermieter hatte er sich an den täglichen Klatsch über Leonard und Virginia, Lytton, Morgan und die anderen gewöhnt. Sie sprach über sie wie über enge Freunde, und Duncan und Vanessa verirrten sich in die Unterhaltung wie Kunden in die Buchhandlung. Offenbar hatte eine Begegnung als Teenager mit Frances Partridge ihren Bloomsbury-Fimmel ausgelöst, und da jetzt beinahe monatlich ein Buch zu dem Thema erschien, lebte sie in einem Rauschzustand permanent geschürter Erwartungen. Natürlich gehörte Cecil streng genommen nicht zur Bloomsbury-Meute, aber war bekannt mit den meisten Mitgliedern aus dem Cambridge-Ableger, und Karen empfand es als großes Glück, dass sein Biograf bei ihr logierte. Sie bemutterte ihn und zeigte ernsthaftes Interesse an dem »Job« – dessen Reiz für Paul ja gerade darin bestand, dass es keiner war –, und Paul, obwohl er seine Arbeit gern mit einem gewissen Geheimnis umgab, teilte ihr so gut wie alles mit. Karens Küche wurde das Nervenzentrum des Projekts, und über den verschlungenen Ranken der William-Morris-Tischdecke und bei der zweiten Flasche Rioja wurden viele Pläne ausgeheckt und Spekulationen angestellt. Er genoss ihr bewunderndes Interesse, freute sich darauf, ihr Sachen erzählen zu können, die er sonst nur seinem Tagebuch anvertraut hätte, und befürchtete manchmal, sie könne das Projekt am Ende als Gemeinschaftsarbeit betrachten.
In der merkwürdigen Woche zwischen Weihnachten und Neujahr kam Paul früher aus der Bibliothek nach Hause und fand einen an ihn adressierten Brief mit einer spanischen Briefmarke vor. Karen hatte ihn auf den Garderobentisch gestellt; deutliches Zeichen dafür, dass sie sich hatte zusammenreißen müssen, ihn nicht zu öffnen. Da stand er nun, maschinengeschriebene Anschrift, sein Name falsch buchstabiert. Er nahm ihn mit in die Küche, um ihn dort ordentlich zu öffnen. Es gab nur zwei Möglichkeiten, was der Brief besagen könnte, und selbst das Messer schien zögerlich, als es ihn aufschlitzte.
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