Fremden Kind
Almazán
Sabasona
Antequera
Lieber Mr Bryan,
mein Mann fühlt sich nicht wohl und hat mich gebeten, auf Ihren Brief vom 26. November zu antworten. Es tut ihm sehr leid, aber er kann Sie nicht empfangen. Wie Sie wissen, leben wir die meiste Zeit des Jahres in Spanien, und mein Mann ist selten in London.
Mit freundlichen Grüßen,
Linette Valance
Im ersten Moment war er eigenartig verlegen und froh, dass Karen nicht da war. Eindeutig ein Rückschlag. Vieles hing von Dudley ab und seinem verschlossenen Sekretär mit den Familienunterlagen. Er steckte den Brief zurück in den Umschlag, zog ihn aber nach wenigen Minuten aufgeregt wieder heraus, weil er sich schon nicht mehr genau an den Inhalt erinnern konnte; doch natürlich besagte er mehr oder weniger das Gleiche wie vorher. Es sei denn, er vermittelte gerade in seiner Förmlichkeit noch etwas anderes. Immerhin, auch eine Ablehnung war eine Kommunikation – der Brief gewährte einen Funken Kontakt, mochte er noch so wortkarg und versnobt sein. In gewisser Hinsicht war er ein Verbindungsstück zum eigentlichen Familienarchiv. Er ließ ihn auf dem Küchentisch liegen, setzte Wasser auf und bereitete die Teekanne vor. Mit jeder neuen Durchsicht wirkte der Brief weniger entmutigend. Es war eine Abfuhr, und eine Abfuhr musste knapp sein, um wirkungsvoll zu sein – doch war diese hier nicht auch ein bisschen schwach? Eine überzeugende Antwort hätte gelautet: »Sir Dudley Valance möchte Sie nicht empfangen und steht Ihrem Vorhaben, eine Biografie über seinen Bruder Captain Cecil Valance MC zu schreiben, grundsätzlich ablehnend gegenüber.« Ein solches Veto wurde hier nicht einmal angedeutet. Allmählich gewann er den Eindruck, dass Linette selbst nicht glaubte, die Sache sei damit erledigt. Beinahe lag etwas Resignatives in dem Brief, als würde er das Unvermeidliche nur aufschieben wollen. Die geäußerten Bedenken, sie seien »selten in London« und lebten »die meiste Zeit des Jahres in Spanien« waren vage und offenbar nicht unüberwindlich. Konnte man nicht auch herauslesen, dass sie, im Gegenteil, Paul keine Umstände machen wollten? Er überlegte, ob er sich nicht selbst auf den Weg nach Antequera machen sollte, um sie dort zu interviewen, statt sie auf einer ihrer Stippvisiten in London zu belästigen. Seine Entschlossenheit würde sie sicher beeindrucken, sie vielleicht sogar rühren, und er sah eine zarte und warmherzige Freundschaft sich entwickeln, die seinem Buch Leben einhauchen würde.
Später, oben auf seinem Zimmer, vermerkte er die Ankunft des Briefes in seinem Tagebuch, lehnte sich zurück und sah aus dem Fenster, plötzlich ergriffen von einem tiefen Mitgefühl für die armen alten Valances; es war ein Moment der Erkenntnis, der, wie er meinte, wesentlich für die Arbeit eines Biografen war. Was er für Snobismus gehalten hatte, war bestimmt nur ein Zeichen ihrer Verletzlichkeit, wie sie die oberen Schichten vor den unteren häufig zu verbergen sich bemühten. Dudley war wetterfühlig, und mit vierundachtzig bedeutete jede Begegnung mit Fremden eine Anstrengung für ihn, und wer sagte, dass Paul nicht auch so ein Sensationsjournalist war. Insofern war seine Reaktion verständlich. Schließlich Linette, die auf Anweisung eines alten Mannes handelte, die sie womöglich gar nicht ganz verstand, und hastig die Zeilen hingekritzelt hatte, bevor sie ans Krankenlager zurückgeeilt war. Ein Gespräch mit Paul, wenn es denn zustande käme, wäre für sie beide vielleicht eine enorme Erleichterung. Sein Entschluss stand fest: In den nächsten Tagen würde er einen neuen Brief an sie schreiben, persönlicher und entgegenkommender diesmal, und auf den herzlichen Kontakt zwischen ihnen aufbauen, der nun hergestellt war.
4
D as erste Interview für das Buch führte Paul mit einem alten Herrn, der bei Cecils Antrittsbesuch bei den Sawles als Diener auf Two Acres gearbeitet hatte. Es kam ihm wie ein Wunder vor, dass er überhaupt noch unter den Lebenden weilte. Aber auch der Mann schien verwundert. Am Telefon fragte er Paul, wie um Himmels willen er ihn aufgespürt habe, worauf Paul ihm die Passage aus Cecils Brief an Freda Sawle vorlas, er wolle »den jungen Jonah am Bahnhof entführen und eine Unsumme als Lösegeld verlangen«. – »Was haben Sie gesagt?«, entrüstete sich der alte Jonah, als hätte Paul ihm ein unsittliches Angebot gemacht. Jonah war schwerhörig. »Sie haben einen seltenen Namen!«, erklärte Paul. George hatte die Stelle mit einer
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