Fremden Kind
dem Briefschlitz offenbar die gleiche war, die seine Mutter auch gehabt hatte; dazu schwache Rufe von irgendwoher, Trillerpfeifen, Fußball, die dürftige Romantik der Vororte, wo sie ins Ländliche ausdünnen und die in ihm die Erinnerung an die Sozialwohnung seines Onkels in Shrivenham wachrief. Er war vertraut mit kleinen Häusern wie diesem, meinte auch die Stimme im Flur zu kennen, die Gestalt, die sich abzeichnete und sich in den Wölbungen des Fensterglases brach. Er spürte die nervliche Anspannung, machte eine gewichtige Miene, als die Tür geöffnet wurde – eine große Frau mittleren Alters, die ihre Hand am Schnappverschluss behielt.
»Oh … Guten Tag … Ich möchte zu Mr Trickett …«
»Und wer sind Sie, bitte?«
»Paul Bryant!«
Sie nickte und trat zurück. »Dad erwartet Sie«, sagte sie, ohne ihn ausdrücklich zu begrüßen. Sie trug einen dicken Mantel in einem dunklen braunen Tartanmuster und enge braune Lederhandschuhe. Paul schlüpfte in dem engen Flur an ihr vorbei und erwischte im Spiegel seine freundlich sorgenvolle Miene. Die Aussicht auf Ruhm, die Paul verkörperte, weil er ihren Vater in einem Buch verewigen wollte, schien ihr gleichgültig, womöglich sogar unerwünscht. »Dad!«, rief sie, als wüsste sie bereits, dass er sie nicht verstehen würde, »er ist da.« Sie schloss die Haustür, zwängte sich an Paul vorbei ins Wohnzimmer. »Mr Bryant ist da«, sagte sie. »Kommst du allein zurecht?« Paul verschluckte einen Atemzug, sodass es so schien, als seufzte er vor Erleichterung, als er ihr ins Zimmer folgte. Eifer und Charme, zuversichtlich freundliches, doch nicht übermütiges Lachen, Respekt mit einem Schuss Konspiration – all das, hoffte er, würde sein eiliger Schritt auf den völlig Fremden zu, der sich, den weißhaarigen Kopf zur Seite geneigt, mit dem fragenden Blick des Tauben aus dem Sessel hochkämpfte, bereithalten. »Sie müssen laut sprechen«, sagte die Frau.
Paul reichte ihm die Hand. »Guten Tag, Mr Trickett!« Er hatte ganz vergessen, dass er schwerhörig war, und vernahm jetzt seinen eigenen forcierten Ton.
»Sind Sie Paul?«, fragte Mr Trickett mit einem nervösen La chen und wieder dem vogelartigen, erwartungsvollen Blick.
»Ja«, sagte Paul. Er musste dem alten Mann wie ein Kind erscheinen oder einer aus der unübersichtlichen Enkelschar. Auch das war irritierend, aber er würde das Beste daraus machen. Jonah Trickett war klein, breitschultrig, hatte ein offenes, freundliches, sehr fein geschnittenes Gesicht und blaue Augen, die anscheinend gleichermaßen vom Zuhören wie vom Zuschauen schärfer geworden waren. Er hatte volles Haar und ein perfektes, aber unpersönliches Standardgebiss, das den Gesichtern alter Männer häufig etwas hilflos Beflissenes verlieh. Paul sah, dass er als Junge wahrscheinlich attraktiv gewesen war, und etwas Jungenhaftes hatte er sich bewahrt. Als er Paul entgegenkam, torkelte er leicht.
»Ich habe eine neue Hüfte«, platzte er halb verschämt heraus. »Nimm dem jungen Mann den Mantel ab, Gillian.« Seine Stimme war ein wenig belegt und so wie die Straße, in der er wohnte, provinziell, London mit einem Schuss Ländlichem.
Während Paul die Aktentasche abstellte und den Mantel aufknöpfte, sah er sich im Zimmer um: an den Wänden einige Teller, keine Bilder, die Fotos auf der Fensterbank schwarzweiße Hochzeitsbilder, ein neueres von einem Familientreffen in Farbe. Ein Gasofen erzeugte erdrückende Hitze. Auf dem Fernsehgerät stand ein Foto von Jonah zusammen mit einer Frau, die sehr wahrscheinlich seine Ehefrau war oder gewesen war. Paul wollte sich aufmerksam geben, aber nicht neugierig, verhielt sich jedoch genau umgekehrt. »Also gut. Ich bin dann mal weg«, sagte Gillian und brachte Pauls Mantel zur Garderobe. Als die Haustür zuschlug, spürte er, wie sich ein schrecklich beklemmendes Gefühl über sie legte, und mit steifem Lächeln sah er Gillian durchs Fenster hinterher, wie sie die paar Schritte durch den Vorgarten ging und das Törchen öffnete und zumachte. Es war, als hätte gerade jemand etwas Hochnotpeinliches von sich gegeben. Sollte es mit dem Interview nicht klappen, wäre er nach zwanzig Minuten wieder draußen, dachte er. Sie ließen sich links und rechts des Gasofens nieder, auf dem Kaminvorleger zwischen ihnen ein Krug mit Wasser. Die Porzellanröhrchen im Ofen glühten und knisterten. Er hatte den Eindruck, dass man Vorkehrungen getroffen hatte: Auf dem Tisch neben Jonah lag ein Schnellhefter, sein
Weitere Kostenlose Bücher