Fremden Kind
denn jetzt?« Paul schielte auf die rote Nadel.
»Na ja …« Sie mochte sich nicht recht erwärmen für die Frage. »Sie sind natürlich alle sehr beschäftigt und erfolgreich, wie man sich denken kann. Jennifer ist Doktor – ich meine, kein richtiger Doktor, sie unterrichtet in Edinburgh; ja, ich glaube, es ist Edinburgh. Wilfrid wird mich korrigieren, wenn es nicht stimmt.«
»Sie unterrichtet französische Literatur, nicht?«
»Ja … Und John hat ja seinen blühenden Weinhandel.«
»Er schlägt nach seinem Großvater«, sagte Paul beinahe liebevoll.
»Sein Großvater hat keinen Weinhandel.«
»Nein, das nicht – aber ich glaube, Sir Dudley macht in Sherry, oder nicht?«
»Ach so, ja … Und Julian – Julian ist der Künstler in der Familie, er ist sehr kreativ.«
Ihrer Antwort, zärtlich im Ton, endgültig in der Sache, entnahm er, dass er lieber nicht nachhaken sollte, um was für eine Form von Kreativität es sich handelte. Er fürchtete, sein heimliches Interesse von damals, an Julian als Schuljunge, könnte durchschimmern »Wie kommen Sie darauf? Haben Sie Dudley getroffen?«, wollte Daphne wissen.
»Ja«, sagte Paul nur, der noch unschlüssig war, welchen Kurs er bei Dudley weiterverfolgen sollte. Für sein Gefühl einigermaßen unparteiisch erzählte er von der Konferenz in Oxford und merkte, dass er Dudleys vernichtende telefonische Abfuhr innerlich bereits zensiert und entschuldigt hatte; als Anekdote hatte sie einen Wert, der in gewisser Weise das ausgefallene Gespräch wettmachte. »Ich fand ihn sehr widersprüchlich. Er meinte, die Kriegsgedichte der damaligen Zeit seien gewöhnlich nicht sehr gut, ›untauglich und amateurhaft‹ waren seine Worte. Wohingegen die bedeutende Kriegsliteratur allesamt in Prosa geschrieben und zehn Jahre später erschienen sei – oder noch später, wie in seinem Fall.«
»Das klingt ganz nach Dudley.«
»Zu Cecil hatte er nicht viel zu sagen.«
Sie grübelte eine Minute, und er dachte schon, endlich würde sie sich selbst mal zu ihm äußern. »Sie haben ihn natürlich zu einem Fellow ehrenhalber ernannt, nicht wahr«, sagte sie.
»Das wusste ich nicht.«
»Doch, bestimmt. Wir sprechen gerade über deinen Vater«, sagte Daphne, als Wilfrid zurückkehrte.
»Oh …!«, sagte Wilfrid mit erstaunlich kalter Miene.
»Nicht gerade Wilfies bester Freund«, sagte Daphne.
Als Wilfrid wieder gegangen war, änderte sich die Atmosphäre schlagartig; es herrschte eine unfreiwillige Intimität, als wäre Paul ein Arzt und würde sie gleich auffordern, sich oben frei zu machen. Erneut überprüfte er das Aufnahmegerät. Daphne blickte bedingt resigniert. Paul räusperte sich und schaute noch mal in seine Notizen, auf seinen Plan, der vorsah, das Ganze eher wie eine Unterhaltung aufzuziehen, was überzeugender wirken würde. Trotzdem hörte es sich gestelzter an als beabsichtigt, als er jetzt sagte: »Ich wollte Sie fragen, warum Sie Ihre Memoiren – äh –, Die kurze Galerie, als eine Folge von Porträts anderer Leute verfasst haben statt eines ihrer eigenen Person.« Er fürchtete, sie könnte mit ihren schlechten Augen sein respektvolles Lächeln nicht sehen.
»Oh, ja.« Sie legte den Kopf in den Nacken. Zweifellos lauerte hinter dieser Frage – hinter allen Fragen – wie ein dunkler Schatten die Frage nach seiner Rezension ihres Buches. »Also …«
»Ich meine …« Paul lachte. »Warum haben Sie sie so angelegt? Ich erinnere mich, als ich Sie zum ersten Mal sah, da sagten Sie, Sie schrieben gerade an Ihren Memoiren. Ich weiß also, dass das Buch Sie lange beschäftigt hat. Das war vor dreizehn Jahren!«
»Ja, tatsächlich«, sagte Daphne. »Es hat mich sogar noch viel länger beschäftigt.«
»Ich darf Ihnen sagen, dass ich das Buch sehr bewundert habe.«
»Oh – das ist sehr freundlich von Ihnen«, bemerkte sie recht trocken. »Ich glaube, der Hauptgrund war einfach, dass ich das Glück hatte, sehr viele Menschen zu kennen, die talentierter und interessanter waren als ich.«
»Mein Wunsch wäre natürlich, Sie hätten mehr über sich selbst preisgegeben.«
»Ach, ich hoffe doch, dass ein gewisser Anteil hineingeflossen ist.« Sie sah mit zusammengekniffenen Augen zum Tonbandgerät und machte sich klar, dass dieses Gesäusel aufgenommen wurde, ebenso ihre Reaktion darauf. »Ich wurde in dem Glauben erzogen, dass es die Männer um mich herum sind, die die wichtigen Dinge tun. Viele haben ihre Memoiren verfasst, oder andere schreiben jetzt über ihr
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