Fremden Kind
sollte. Wie fragte man eine dreiundachtzigjährige Frau, ob sie mit einem Mann … er mochte es nicht mal vor sich selbst aussprechen. Und falls Cecil sie geschwängert hatte, dann könnte sie sich jetzt die ganze Geschichte in einem tränenreichen Schwall der Erleichterung von der Seele reden; allerdings spürte Paul, dass es in dieser Atmosphäre nicht gelingen würde. Als er jetzt aufblickte, schien es, als wäre sie von ihren eigenen Worten tief gerührt. »Ja, so war das!«, sagte sie und schüttelte wieder den Kopf. Es war einer jener verstörenden Momente, die Paul nur allzu vertraut waren im Leben, wenn er erkennen musste, dass er etwas verpasst hatte und rückblickend auch nie zu sagen vermocht hätte, was den raschen Gefühlsumschwung in der anderen Person ausgelöst hatte. Würde sie gleich anfangen zu weinen, fragte er sich. Gesellschaftlich gesehen, wäre das peinlich, doch für sein Buch wunderbar, wenn die Strategie aufginge und er eine verschüttete Erinnerung in ihr weckte. Er schielte auf das beharrlich sich drehende Band. Dann merkte er, dass er schon wieder etwas missverstanden hatte – oder aber sie ihn brüsk von ihrer unerwarteten emotionalen Wende ausschloss. »Ehrlich gesagt«, setzte sie an, »habe ich manchmal das Gefühl, an den alten Cecil gekettet zu sein. Es ist zum Teil seine Schuld – weil er getötet wurde. Hätte er länger gelebt, wäre der eine jeweils nur eine Gestalt unter vielen in der Vergangenheit des anderen gewesen, und niemand hätte sich auch nur im Geringsten dafür interessiert.«
»Ach, das glaube ich nicht unbedingt …!« Wollte er sie reizen oder beschwichtigen? »Soviel ich weiß, hatten Sie vor zu heiraten.«
»Na ja … selbst wenn – ich glaube, der Ehe wäre kein großer Erfolg beschieden gewesen.«
»Es gibt den Brief, in dem er schreibt: ›Möchtest du meine Witwe werden?‹« Paul hielt es selbst jetzt nicht für taktvoll, sie darauf aufmerksam zu machen, dass Cecil, wie aus dem Band mit Briefen hervorging, am selben Tag auch Margaret Ingham gefragt hatte, ob sie seine Witwe werden wolle. »Aber ich habe den Eindruck, dass er sehr … wankelmütig war.«
»Ja, natürlich. Aber Sie dürfen eins nicht vergessen: Cecil gab einem das Gefühl, man wäre der Mittelpunkt des Universums.« Was bei Paul Mitleid und eine Spur Neid auslöste.
Wenig später wurde es Zeit für den obligatorischen, notwendigen und nicht selten lehrreichen Gang zur Toilette – eine willkommene Flucht in die Privatsphäre, ein Blick in den Spiegel und eine Gelegenheit, beim ungestörten Herumschnüffeln etwas über die Gewohnheiten des Interviewten, seine Einstellung zu Hygiene und seinen Sinn für Humor zu erfahren. Im Haus Olga offenbarte das Gerümpel, das man in den düsteren, nach Schimmel riechenden kleinen Raum gestopft hatte, vielleicht sogar einen besonders pikanten Humor. Hinter der Tür ein Haufen Bilderrahmen mit zerbrochenen Glasschei ben, obenauf ein zusammenklappbarer Kartentisch, unter dem Waschbecken ein langer Karton mit einem Krocketset, auf dem Deckel mit Schablone geschrieben der Name JACOBS . Gegenüber dem Waschbecken streifte seine Schulter ein düsteres Gemälde in einem protzigen Goldrahmen, aus dem etliche Stücke herausgebrochen waren: Es zeigte einen blassen jungen Mann mit schwarzem Hut und überheblichem Blick, und die Leinwand wies Streifen auf, als hätte jemand versucht, sie mit einem schmutzigen Schwamm zu reinigen. Die Toilette, ohnehin kein heller Raum, wurde noch mehr verdunkelt durch einen wilden Wein, der an der Außenseite die untere Hälfte des Milchglasfensters bedeckte, sich aber durch das geöffnete Oberlicht einen Weg hinein verschafft hatte und als langer Strang, über einen Haufen größerer, in ein Tischtuch gehüllter Gegenstände hinweg, wuchernd die Wand querte. Die Toilette selbst hätte Paul am liebsten nicht benutzt, das Porzellanbecken war unterhalb der Wasserlinie dunkel wie Torf und hatte, wie Peter Rowe sich ausgedrückt hätte, eine Lesbenbrille, die man hochhalten musste. Unter der Tischdecke versteckten sich mit grellgelbem Tape zugeklebte Weinkartons, die bei einem längeren Aufenthalt genauer zu untersuchen sich lohnen könnte. An der Wand neben der Toilette hüfthohe Bücher- und Zeitschriftenstapel. Obenauf lagen die Ausgabe des Tatler mit Daphnes Interview und eine sechs Jahre alte Country Life mit einem Artikel über Staunton Hall, »Lady Caroline Messents Heim«, die vermutlich zum Zweck ritueller Selbst
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