Fremden Kind
geliebt.« Sie erzählte routiniert, ihre Stimme hatte etwas Schmelzendes, Künstliches. Er ließ sie gewähren, machte ein zerstreutes, ungeduldiges Gesicht, während sich in seinem Geist die nächste, schon schwierigere Frage formte. Als sie zum Ende gekommen war und sich zu ihrer Tasse Kaffee vorbeugte, sagte er: »Darf ich Sie fragen, was Sie von der Freundschaft Ihres Bruders mit Cecil gehalten haben?«
»Oh …«, schnaubte sie, den Becher in der Hand. »Nun ja, sie war sehr ungewöhnlich.«
»Inwiefern?«, sagte Paul mit einem dezenten Kopfschütteln.
»Hm? Der arme George hatte vorher noch nie einen Freund gehabt. Wir waren alle ziemlich begeistert, als er plötzlich einen aus dem Hut hervorzauberte.«
Paul musste grinsen; eine unfreiwillige Seelenverwandtschaft geisterte manchmal durch seine Interviews. »Und konnten Sie verstehen, warum die beiden befreundet waren? Standen sie sich sehr nahe?«
Wieder seufzte Daphne, als hätte sie sich dazu durchgerungen, ganz offen zu reden. »Ich glaube, es war ein ganz klarer Fall von altmodischer« – sie hielt inne, trank einen Schluck –, »nun ja, Heldenverehrung. George war sehr jung für sein Alter, emotional gesehen. Ich glaube, in Cambridge ist er ein bisschen aus sich herausgegangen.« Sie zuckte leicht zusammen. »Ehrlich gesagt, war George schon immer ein kalter Fisch.«
Paul überlegte kurz, ob er noch offenere Worte wählen sollte, doch ein Blick auf Daphne genügte, um ins Zweifeln zu kommen: Er befürchtete, sie zu verprellen. »Hatten Sie den Eindruck, dass er möglicherweise eifersüchtig auf Ihre Affäre mit Cecil war?«
»George? Nein, nein«, sagte sie und ergänzte, als sei sie unzufrieden mit ihrer herabsetzenden Bemerkung von vorhin oder als käme es jetzt ohnehin nicht mehr darauf an: »George hatte nie normale menschliche Gefühle. Ich weiß auch nicht, warum. Ich wage sogar zu behaupten, dass es ihm nicht geschadet hat – ohne Gefühle ist das Leben vermutlich sehr viel einfacher, wenn auch ein bisschen stumpfsinnig, meinen Sie nicht!« Paul sah das Foto von George und Cecil mit nacktem Oberkörper auf dem Dach von Corley vor sich und lächelte entrückt; er war ratlos, inwieweit Daphne selbst davon überzeugt war, was sie sagte, beziehungsweise ihn davon überzeugen wollte, und wie viel sie bereitwillig vergessen hatte. »Wenn Sie vor ein paar Jahren gekommen wären, hätte ich Ihnen vorgeschlagen, ihn einfach selbst danach zu fragen, aber jetzt ist er leider nicht mehr ganz klar – hier oben, meine ich. Die arme Madeleine hat ganz schön mit ihm zu kämpfen.«
»Das tut mir leid«, sagte Paul.
»Er hätte Ihnen wirklich weiterhelfen können. Ich will übrigens damit nicht sagen, dass er früher ein langweiliger Mensch war. Er war ein Intellektueller, schon immer der klügste Kopf der Familie.«
Paul ließ einen Moment verstreichen und blätterte in seinen Unterlagen, mimte ein bisschen den Interviewer, was eher dem eigenen Nutzen diente als ihrem. »Darf ich Sie fragen – Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es eine Liebesaffäre war – ich meine, zwischen Ihnen und Cecil …!«
»Ja, allerdings.«
»Sie haben sich gegenseitig geschrieben, aber haben Sie sich auch gesehen?«
»Habe ich nicht schon gesagt …? Nein, nein, ich glaube, wir haben uns sehr häufig gesehen.«
»Natürlich kam der Krieg dazwischen.«
»Ja, der Krieg, gewiss. Da haben wir uns nicht so häufig gesehen.«
»Ich habe versucht, mir aus den Briefen zusammenzureimen, wann er in England war. Er hat sich sofort freiwillig gemeldet, noch im September 1914.«
»Nun ja, er hat den Krieg geliebt.«
»Im Dezember war er schon in Frankreich und danach nur selten zu Hause auf Urlaub, bis zu – bis zu seinem Tod, anderthalb Jahre später.«
»So wird es gewesen sein, ja«, sagte Daphne und hüstelte ungeduldig.
Paul, berechnend und mit einem knappen entschuldigenden Lächeln, sagte: »Können wir vorspringen zu dem Tag, als Sie ihn zum letzten Mal sahen?«
»Oh, ja …«, japste sie, als wäre sie vorübergehend benommen gewesen.
»Was hat sich damals abgespielt?«
»Ich kann Ihnen wieder nur sagen …« Sie schüttelte den Kopf, als würde sie ihm ja gerne helfen. »Ich glaube, es war alles so, wie ich es in meinem Büchlein beschrieben habe.«
Paul las ihr, ziemlich holprig, den Abschnitt vor, den er sich bereits im Zug noch mal zu Gemüte geführt hatte, und sie hörte mit neugieriger, leicht trotziger Miene zu. Wieder wusste er nicht, wie er vorgehen
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