Fremden Kind
trotzdem nicht. Er hat nur einen scheußlichen Kranz … geschickt.«
»Das ist ja furchtbar«, meinte Paul. Er wollte fragen, ob Dudley nicht diverse psychische Probleme habe, doch dann kam ihm der Gedanke, dass Wilfrid davon möglicherweise auch nicht verschont war, und er sah ihn nur kurz respektvoll an.
»Andererseits hat er meine Schwester nie besonders ge mocht«, sagte Wilfrid. »Insofern war es schlimm, andererseits auch nicht … überraschend.«
»Ah ja, verstehe …«
»Obwohl, jemand, der sich selbst dermaßen treu ist, macht manchmal etwas … ganz Unerwartetes.«
»Sie meinen, dies eine Mal hätte er unbedingt das einzig Richtige tun sollen.«
»Wir waren so dumm, das zu glauben«, antwortete Wilfrid, und danach gab es nicht mehr viel zu sagen, aber für Paul umso mehr zum Nachdenken.
Die Sonne war mittlerweile zwischen den schwarzen Wolkenbänken im Westen untergegangen, und die Rückseite des Dorfes kauerte traut und trostlos im farblosen Licht des frühen Abends. Hühnerställe, Gartenschuppen, bergeweise Gartenabfälle, jahrelang über die Hecke gekippt, ein auf Backsteinen aufgebocktes Auto, ein weißes Gewächshaus, ein Gedränge von Fernsehantennen vor dem kalten Himmel. Mit einem wehmütigen Schauder fiel Paul seine Straße in Tooting ein, mit ihren erleuchteten roten Bussen. Peter hatte diese Stimmung immer seine nostalgie du pavé genannt, die panische Sehnsucht nach London. »Ach, Schätzchen«, sagte er dann in Wantage oder Foxleigh, »hier möchte ich nicht tot überm Zaun hängen.«
Wieder zurück im Bungalow, sagte Paul: »Haben Sie herzlichen Dank, aber allmählich muss ich mich auf den Weg machen.« Zu seiner Überraschung lud Daphne ihn ein: »Trinken Sie erst noch ein Glas.« Auf Tische und Stühle gestützt, bahnte sie sich ihren Weg in eine Ecke des Zimmers, wo auf einer winzigen Abstellfläche diverse Flaschen, ein Eiskübel, Tabasco und Bitterchen, alle Utensilien der Cocktailstunde versammelt waren. Wilfrid wurde in die Garage geschickt, um Eis aus dem Kühlschrank zu holen. »Er weiß, dass wir es brauchen, und dann zieht er so ein Gesicht!«, sagte Daphne. »Gin Tonic?« Paul sagte Ja und musste innerlich lachen, weil ihm ihre erste Begegnung wieder einfiel, beim selben Getränk, als er im Garten gesessen und versucht hatte, ihr nicht unter den Rock zu gucken. Mit geübtem Griff öffnete sie jetzt eine Flasche Tonic, die Flüssigkeit zischte heraus und tröpfelte ihr Handgelenk hinunter. »Hast du es?«, fragte sie Wilfrid, als er mit einem silbernen Plastikkübel zurückkam. »Sieh doch nur, es ist ein einziger Brocken. Du musst es zerstückeln. So kann ich es unmöglich gebrauchen. Also wirklich, Wilfrid!«, überspielte sie zur Belus tigung des Gastes mit halbherziger Komik ihre Verärgerung.
Als sie versorgt waren, kam Daphne freundlich, aber zielstrebig noch mal auf das neue Buch über Mark Gibbons zu sprechen. Es sei überhaupt nicht gut, sagte sie, außerdem gehe die Hälfte verloren, wenn Marks Bilder nur schwarzweiß abgedruckt wären. (Paul vermutete, dass Wilfrid ihr vorgelesen hatte, doch wie üblich wurde seine Hilfe ignoriert.) Merkwürdig, fuhr sie fort, wie manche Menschen aus dem Hintergrund plötzlich in den Vordergrund träten und andere in Vergessenheit gerieten. Mark habe so eine Art Hausmeister, einen Mann für alles, Dick Mint, ein Original, der ihm das Auto repariere, sich um den Garten kümmere und oft in Marks Küche in Wantage herumsitze und endlose Gespräche mit seinem Chef führe. Eigentlich ein ziemlicher Langweiler, aber er habe sich schon dolle Dinge geleistet, zum Beispiel glaubte er, die Postimpressionisten hätten was mit der Post zu tun. Vielleicht – wie viele? – zwanzig Menschen auf der ganzen Welt kannten ihn, anderen sei er kein Begriff. Er lebte in einem Wohnwagen. Jetzt aber würden dank des Buches vermutlich Tausende von ihm erfahren, er wäre ein Darsteller auf der Weltbühne, und sogar Menschen in Amerika würden ihn kennenlernen. Wohingegen die Frau, die Mark den Haushalt besorge, die Jean oder so heiße, wie Daphne meinte, die putze und seine Wäsche mache – sie werde mit keinem Wort erwähnt, an sie werde in diesem und im nächsten Jahr niemand denken.
»Ich muss das Buch über Mark Gibbons unbedingt lesen«, sagte Paul und wünschte sich, er hätte während ihres Sermons das Tonbandgerät eingeschaltet.
»Die Mühe können Sie sich ersparen«, sagte Daphne.
Paul lachte. »So etwas muss Ihnen doch ständig
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