Fremden Kind
irrelevanten Sache daher. Vielleicht meinte er ja, alle Antworten bereits zu kennen, aber warum fragte er dann? Natürlich nahm er alles mit seinem verdammten Tonbandgerät auf, aber das befreite ihn nicht von einem Mindestmaß an Höflichkeit. Morgen früh würde sie Robin im Büro anrufen und ihm die Leviten lesen.
Sie wälzte sich auf die andere Seite, richtete sich behaglich in ihrer Selbstgerechtigkeit ein, doch kurz bevor sie wieder einschlief, ließ sie eine plötzliche hübsche Idee, wie sie Paul Bryant ein für alle Mal loswerden konnte, wieder hellwach werden. Wilfrid hatte ihn zum Feathers gefahren, dieser schrecklichen Absteige; ein Glück, dass er dort schlief und nicht … Offenbar meinte er, das Feathers sei wer weiß was für ein Hotel! Nur zwei Sterne, hatte er gesagt, aber ganz komfortabel. Morgen früh würde sie gleich als Erstes ihren Sohn bitten, dort für sie anzurufen. Sie lag im Bett, halb sinnierend, halb dösend, stellte sich den Nachmittag ohne ihn vor: Freiheit, etwas eingefärbt, aber nicht verdorben, von einem leisen Schuldgefühl. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie ihm gesagt hatte, er könne zweimal kommen, außerdem war er extra aus London angereist. Aber warum sollte sie sich noch mal dieser Tortur aussetzen, im hohen Alter von dreiundachtzig Jahren? Sie fühlte sich nicht gut, sie hatte große Probleme mit den Augen … Wirklich, sie brauchte sich keine Gedanken zu machen. Er war sämtliche Briefe von Cecil an sie mit ihr durchgegangen, die er als manipulativ und wehleidig bezeichnete – vielleicht hatte er ja recht, aber was wollte er von ihr hören? Er wollte Erinnerungen von ihr, aber er war noch zu jung, um zu wissen, dass Erinnerungen nur Erinnerungen von Erinnerungen waren. Frische Erinnerungen waren so selten wie Diamanten. Und wenn sie welche gehabt hätte, wäre Paul Bryant der Letzte, mit dem sie sie teilen wollte.
Angeblich hatte sie ein gutes Gedächtnis, und angesichts der Abertausend Dinge, an die sie sich nicht erinnerte, lastete dieser Ruf schwer auf ihr. Ihre Leser waren erstaunt, was sie für ihr Buch alles ans Licht befördert hatte, doch vieles, wie sie Paul Bryant gegenüber beinahe zugegeben hätte, war – nicht gerade reine Erfindung, das sollte man lebenden Personen nicht antun – aber dichterische Rekonstruktion. In Wirklichkeit hatte sie alle interessanten und entscheidenden Momente ihres Erwachsenenalters im mehr oder weniger betrunkenem Zustand erlebt: An das, was nach 18 Uhr 45 geschah, hatte sie so gut wie keine Erinnerung, und der Nebel der Abende, seit über sechzig Jahren, war längst bis in die Tagesstunden gesickert. Das größte Problem beim Schreiben des Buches war gewesen, sich ins Gedächtnis zu rufen, was die jeweils Beteiligten gesagt hatten; tatsächlich hatte sie sich alle darin geschilderten Unterhaltungen ausgedacht, das heißt (wenn man es ganz genau nahm), sie basierten allein auf ein zelnen Wörtern, die die betreffende Person ganz sicher irgend wann mal von sich gegeben hatte, in einem Zeitrahmen von fünf, höchstens zehn Jahren um das geschilderte Ereignis herum. Durfte man ihr das anlasten? Gelegentlich berichteten andere die unglaublichsten Dinge, die sie gesagt haben sollte, lustige Sachen, die die anderen niemals vergessen würden und für die sie Daphne dankbar waren – aber vielleicht sollte man solchen Berichten mit dem gleichen Misstrauen begegnen? Manchmal wusste sie genau, dass sie sie mit einer anderen Person verwechselten. Wahrscheinlich hatte sie einfach zu lange gewartet mit ihren Memoiren. Basil hatte sie immer dazu ermuntert, ihr gesagt, alles aufzuschreiben über Revel und über Dudley vor ihm, »bedeutende Figuren!«, wie er sich ironisch ausgedrückt hatte. Aber es hatte dreißig Jahre gebraucht, bis es so weit war, und natürlich hatte sie in der Zwischenzeit viel vergessen, an das sie sich, als sie anfing, noch gut hatte erinnern können. Ganz anders wäre es gewesen, wenn sie Tagebuch geführt hätte, doch das war nicht der Fall, und ihre Erfahrung als Memoirenschreiberin warf unweigerlich ein äußerst kritisches Licht auf die Hälfte aller Memoiren, die geschrieben wurden. Manche der geschilderten Ereignisse in ihrem Buch waren unzweifelhaft mit Berk shire oder Chelsea verbunden, doch viele andere spielten sich, wie in einem Repertoiretheater, vor einer Universalkulisse aus Getränkewagen, Spiegeln und Chintzsofas ab und vermengten alles gesellschaftliche Leben zu einem einzigen
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