Fremden Kind
schwindelerregenden, nicht enden wollenden Durchlauf.
Ähnlich, eigentlich noch schlimmer, erging es ihr mit den Aberhundert Büchern, die sie gelesen hatte, Romane, Biografien, gelegentlich Bücher über Kunst oder Musik – sie konnte sich an kein einziges erinnern, sodass es eigentlich völlig sinnlos war, überhaupt zu sagen, dass man sie gelesen habe; solchen Behauptungen wurde von anderen großer Wert beigemessen, aber man durfte bezweifeln, dass sie selbst sich besser an ihre Lektüre erinnerten. Manchmal blieb ein Buch wie eine Art farbiger Schemen am Rand des Blickfeldes kleben, so verschwommen und wenig greifbar wie etwas, was man im Vorbeifahren im Regen sieht: Schaute man genauer hin, verschwand es komplett. Manchmal blieb eine Stimmung übrig, sogar die Rudimente einer Szene: Ein Mann blickt von einem Büro aus auf den Regent’s Park hinaus, Regen draußen auf der Straße – die verschmierte Skizze einer Situation, die sie niemals zurückverfolgen könnte bis zu ihrem Ursprung in einem Buch, das sie in den letzten dreißig Jahren meinte gelesen zu haben.
Sie wachte auf, als graues Licht durch den Spalt über den Vorhängen sickerte, und sie überlegte, wie spät es wohl sein mochte. Dieses frühe Aufwachen war jedes Mal eine bange Gewinn-und-Verlust-Rechnung. War es spät genug, um geweckt werden zu dürfen? War es noch früh genug, um einen berechtigten Anspruch auf mehr Schlaf anzumelden? Je näher das Frühjahr heranrückte, umso wehrloser wurde man. Zehn vor sechs, nicht schlecht. Und kaum hatte sie angefangen, darüber nachzudenken, ob sie auf die Toilette musste oder nicht, war sie auch schon aufgestanden. Aus dem Bett, in die Pantoffeln, Morgenmantel über Pyjama. Sie war froh, dass sie sich im Spiegel nur als zerzaustes Bündel erkennen konnte. Licht an, vorbei an Wilfrids Tür, das Knacken des losen Parkettbodens, aufwachen würde Wilfrid davon nicht. Er hatte den gesegneten Schlaf eines Kindes. Sie bewahrte ein Bild von ihm, das sich seit fünfzig Jahren kaum verändert hatte: sein Kopf auf dem Kissen, und nichts stößt ihm zu, von dem sie nichts weiß. Und jetzt war diese Birgit aufgetaucht mit ihren dubiosen Plänen. Der arme Wilfrid war so naiv, dass er gar nicht sah, was für eine Mitgiftjägerin sie war – und was für eine Mitgift! … Daphne grummelte missbilligend, während sie sich einen Weg durch den dunklen Verschlag ertastete, in dem das Waschbecken und die Toilette wie Fremdkörper in einem Müllberg anmuteten.
Am frühen Morgen, hell und klar, rief Lady Caroline Messent an und lud sie zum Tee ein. Das Telefon im Haus Olga war fest an einer Wand in der Küche montiert; offenbar hatte Lady Caroline in der Vorstellung gelebt, ihre ehemalige Haushälterin hielte sich gewohnheitsmäßig und abrufbereit in diesem Raum auf. »Ich kann leider nicht, meine Liebe«, sagte Daphne. »Der junge Mann von gestern kommt heute noch mal vorbei.«
»Ach, sagen Sie ihm doch einfach ab«, sagte Caroline in ihrer eigenartig hastigen Stimme. »Wer ist es denn?«
»Er heißt … Er befragt mich. Ich bin eine Gefangene in meinem eigenen Haus.«
»Darling …«, sagte Caroline und gönnte Daphne vorläufig das Gefühl, es sei ihr Haus. »Das würde ich mir nicht gefallen lassen. Ist es der Gasmann?«
»Ach, viel schlimmer.« Daphne stützte sich auf die Arbeitsplatte, auf der sich, nur verschwommen erkennbar, ein gefährliches Gebirge aus schmutzigem Geschirr, halb leeren Flaschen und Medikamentenschachteln auftürmte. »Er ist gestern aufgekreuzt … wie ein Haushaltsvertreter.«
»Wollte er Ihnen was andrehen?«
»Er sagt, ich hätte ihn bei Corinna und Leslie kennengelernt, aber daran kann ich mich absolut nicht erinnern.«
»Ach so, ich verstehe …«, sagte Caroline, als wollte sie sich jetzt doch eher auf die Seite des jungen Mannes schlagen. »Was will er denn von Ihnen?«
Daphne seufzte schwer. »Schweinkram, im Wesentlichen.«
»Schweinkram?«
»Er hat vor, ein Buch über Cecil zu schreiben.«
»Cecil? Ach, Sie meinen Valance? Ach so, ja.«
»Wissen Sie, ich habe doch schon alles darüber gesagt in meinem Buch.«
Caroline machte eine Pause. »Es war wohl nur eine Frage der Zeit.«
»Hm? Ich weiß nicht, was er sich in den Kopf gesetzt hat. Ständig macht er Andeutungen, Unterstellungen, verstehen Sie, was ich meine? Mehr oder weniger wirft er mir vor, ich sei in meinem Buch nicht mit der Wahrheit herausgerückt.«
»Wie ärgerlich. Bitten Sie ihn doch, deutlich zu sagen, was
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