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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
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er will, und nicht so herumzudrechseln.«
    »›Nicht drechseln, mehr dreschen‹, wie Alfred, Lord Tennyson, zu meinem Vater gesagt hat.«
    »Ja, sehr witzig«, sagte Caroline.
    »Wirklich, Cecil bedeutet mir gar nichts. Vor sechzig Jahren war ich mal fünf Minuten verrückt nach ihm. Cecil war für mich nur insofern wichtig«, sagte Daphne, hörte selbst aber nur halb hin, »weil er zu Dud geführt hat und den Kindern und zu meinem weiteren Leben als Erwachsene, in dem er naturgemäß keine Rolle mehr gespielt hat.«
    »Darling, Sie sollten Ihrem Haushaltsvertreter mal die Meinung sagen«, schlug Caroline vor, die offenbar fand, dass Daphne ein bisschen zu viel schimpfte.
    »Ja, vielleicht.« Sie schämte sich, doch etwas sträubte sich in ihr, das Interesse an dem jungen Mann ganz aufzugeben. Plötzlich fiel ihr ein, dass Caroline ihn ebenfalls kennen musste. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass er auch auf Ihrer Buchvorstellung war«, sagte sie. »Paul Bryant.«
    »Sie meinen nicht zufällig den jungen Mann aus … woher kam er doch gleich, Canterbury? … eine von den kleineren Unis.«
    »Das kann sein. Früher hat er in Leslies Bank gearbeitet.«
    »Ach so, nein, dann ist er es nicht. Aber Sie haben ganz recht, es gab da jemanden, einen sehr klugen jungen Mann, der irgendwas über Cecils Gedichte schrieb.«
    »Ja, ich weiß, wen Sie meinen, ich komme jetzt nur nicht auf seinen Namen. Mit dem hatte ich auch schon zu tun. Nein, nein, ich meine einen anderen jungen Mann.«
    »Hm, Cecil ist ja offenbar sehr gefragt, meine Liebe«, sagte Caroline.

10
    A m nächsten Morgen ging Paul im Hotelzimmer noch mal seine Notizen durch, neben sich ein Tablett mit Kaffee in einer verbeulten Metallkanne, deren Griff viel zu heiß zum Anfassen war, einer lippenstiftverschmierten Tasse und einem Schälchen mit weißem Zucker in weichen Papierröhrchen, die er nacheinander in drei Tassen mit starkem Kaffee schüttete. Der Kaffee peitschte ihn auf, und ihm wurde heiß. Auf einem Teller mit Zierdeckchen lagen fünf Plätzchen, und obwohl er schon gefrühstückt hatte, aß er alle auf, die sattsam bekannten Sorten – Bourbon, Nizza mit Zuckerguss, sogar das abstoßende Ingwerbiskuit, das er in einem Happen verschlang. Für einen Moment war er ganz ergriffen von der armseligen Konsistenz des englischen Lebens, wie sie sich in der Peek-Freans-Mischung kristallisierte. Er lehnte sich zurück und bekam im Spiegel unfreiwillig die eifrigen Kaubewegungen seines Kinns zu sehen, und gleich überkam ihn ein noch viel unangenehmeres Gefühl. Tatsache war, dass er sich noch nie beim Essen beobachtet hatte, und er war erstaunt über seinen nagetierartigen Anblick, den seltsam gestauchten Nacken beim Mampfen, das Flattern der Schläfen. So also stellte sich seine Gesellschaft für andere dar, so einem musste Karen jeden Abend beim Essen gegenübersitzen, eine Erkenntnis, die ihn nachdenklich stimmte, sodass er nach dem nächsten Biss in ein Plätzchen mit Kauen aufhörte und von Neuem begann, als wollte er sich selbst überrumpeln. Er war sich keineswegs sicher, ob er diesem Menschen seine Geheimnisse anvertrauen würde.
    Er schrieb die Eindrücke des gestrigen Treffens in sein Tagebuch, in dem die seltenen Notate aus seinem eigenen Leben jetzt durch die verzwickten Details aus dem Leben anderer ersetzt wurden. Ab und zu hörte er sich noch mal die Bandaufnahme an, eher um die Stimmung zu erfassen, nicht weil er glaubte, noch mehr herausholen zu können. Ziemlich viel hatte er schon vergessen, aber ihm war auch klar, dass es in jedem Interview Phasen gab, in denen man dem Interviewten nicht richtig zuhörte. Das lag einerseits an der eigenen Befangenheit, dem Gefühl, in eine Rolle geschlüpft zu sein – lachen, seufzen, traurig nicken –, die es einem fast unmöglich machte, alle Äußerungen voll und ganz zu erfassen; andererseits an dem gelegentlichen Eindruck, der Interviewte weiche aus, wiederhole sich, langweile den Interviewer vorsätzlich und vergeude seine Zeit. Es war erschreckend, an welche Dinge sich die Befragten nicht mehr erinnern konnten, und seine wichtigsten Zeugen, alle über achtzig, erlebte er im immer gleichen Trott, wie im Hamsterrad, verbissen ihren von der Zeit aufgeweichten Erinnerungen hinterherhecheln. Als er mit Daphne das Gedicht »Die Hängematte« durchgegangen war, in der Hoffnung, ihr Gedächtnis anzufeuern, bediente sie sich in ihren Ausführungen derselben Worte und Phrasen wie in ihrem Buch, ja, benutzte sie

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