Fremden Kind
Hauptstraße kamen, sagte er: »Ich hoffe, ich überfordere Ihre Mutter nicht.«
»Ich glaube, sie genießt es«, sagte Wilfrid und ergänzte mit einem Blick in den Spiegel, wie um sich zu überzeugen, dass sie nicht da war: »Sie erzählt gerne Geschichten.«
Paul wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich Geschichten von ihr zu hören! »Leider ist eben alles sehr lange her.«
»Es gibt Dinge, über die sie nicht sprechen will … Ich hoffe, wir können Ihnen in dieser Hinsicht vertrauen«, sagte Wilfrid unerwartet solidarisch, nachdem er vorher über seine Mutter geschimpft hatte.
»Ja …« Paul war hin- und hergerissen zwischen der erbete nen Diskretion einerseits und andererseits dem Wunsch, Wilfrid zu fragen, wovon er eigentlich sprach. »Selbstverständlich möchte ich nichts schreiben, was Ihre Mutter aufregen könnte oder irgendein anderes Mitglied der Familie.« Würde Wilfrid ihm wohl einige Dinge verraten? Paul konnte schwer einschätzen, wozu er fähig war, psychisch gesehen. Er liebte seine Mutter, eindeutig, und er hasste seinen Vater, mehr oder weniger, aber möglicherweise wäre er nicht der geeignete Verbündete für Paul, um die Beziehungen der Sawles und Valances weiter auszuloten. Falls Corinna tatsächlich Cecils Tochter war, dann könnte Dudleys erschreckende Kälte ihr gegenüber einen tieferen Grund haben.
»Sie sind wohl nicht verheiratet, oder?«, fragte Wilfrid, während er über das Steuerrad in den trüben Glanz von Worcester stierte.
»Nein.«
»Ja, das hat Mutter sich schon gedacht.«
»Ach, ja … hm.«
»Armes Worcester«, sagte Wilfrid etwas später, als der Wagen auf eine Art Stadtautobahn unmittelbar neben der Kathedrale auffuhr; über ihnen, zu nahe, um es richtig erkennen zu können, hochgezogenes angestrahltes Mauerwerk, der große gotische Turm. »Wie kann man so einen schönen alten Ort nur dermaßen verschandeln?« Paul erkannte dies als das Leitmotiv, das sich Mutter und Sohn bei jedem ihrer Abstecher in die Stadt zuraunten. »Direkt neben der Kathedrale!« Wilfrid streckte den Kopf durchs Fenster, um Paul zu ermuntern, das Gleiche zu tun, während das Auto auf die Überholspur glitt – eine trompetenartige Hupe ertönte, ein wild blinkender Lastwagen, groß wie der Turm, bremste quietschend hinter ihnen und donnerte vorbei.
Wilfrid bog links ab, ignorierte stoisch ein Einfahrt-verboten-Schild, fuhr die gesamte Einbahnstraße in die falsche Richtung, nahm den entgegenkommenden Fahrern ihre Rüpelei nur mäßig übel, bog ein zweites Mal ab, und sie standen vor dem Eingang des Hotels Feathers. »Nicht zu fassen«, sagte Paul.
»Ich kenne die alte Stadt wie meine Westentasche«, sagte Wilfrid.
»Also dann, bis morgen«, sagte Paul und stieg aus.
»Soll ich Sie abholen?«, fragte Wilfrid eine Spur zu eilfertig, wie Paul fand, einen Grad zu begeistert über diesen Gast in ihrem Leben. Paul beharrte jedoch, er werde sich mit einem Cathedral-Taxi zufriedengeben. Er blieb stehen und sah Wilfrid hinterher in die Nacht hinausfahren.
9
D aphne überließ sich an diesem Abend wie gewohnt ihren Ri tualen, erst die warme Milch, dann einen kleinen Cherry Brandy, um den grässlichen Geschmack zu vertreiben. Ihre Schlaftablette spülte sie mit dem letzten abgekühlten Rest Milch hinunter, danach umfing sie die angenehme Gewissheit, dass der Tag zur Ruhe kam, lange bevor sie sich ganz der Wirkung von Temazepam unterwarf. Heute zelebrierte sie diese Tatsache mit ihrem Cherry-Brandy. »Wann will er morgen wiederkommen?«, fragte sie, nur um sich bestätigen zu lassen, dass es erst nach dem Lunch war. Wilfrid sah sich nach den Nachrichten noch den Abendfilm an, ihr hatte das Makulaleiden das Fernsehen verleidet. Daphne überließ ihn sich selbst, tätschelte im Vorbeigehen seinen Arm, seine Schulter und begab sich ans andere Ende des Hauses (soweit man bei Olga von einem anderen Ende sprechen konnte).
In der Literatursendung Book at Bedtime auf BBC wurde in dieser Woche die Autobiografie einer Frau vorgelesen, deren Namen sie bereits vergessen hatte, auch was genau sie nach Kenia verschlagen hatte. Gestern Abend hatte sich der Schlaf frühzeitig genug angekündigt, sodass sie noch das Radio und die Nachttischlampe ausschalten konnte. Auf der Frisierkommode, einem scheußlichen, billigen, weißen, goldverzierten Möbelstück, standen die Fotos, die sie fast kaum noch wahrnahm. Heute Abend schielte sie mit einem Seitenblick hinüber, während sie sich die Nachtcreme ins
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