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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
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Gesicht schmierte. Nach dem Besuch des jungen Mannes war das Interesse an ihnen neu entfacht, und sie war froh, dass er sie nicht zu sehen bekommen hatte. Ihr Lieblingsbild war das mit ihr, Corinna und Wilfrid am Fischteich auf Corley, klein, aber gestochen scharf. Mit ihrem cremeverschmierten Daumen drehte sie es ins Licht. Wer hatte es bloß aufgenommen, fragte sie sich … Das Foto, das sie auswendig kannte, hatte mit einem Ereignis zu tun, an das sie sich absolut nicht mehr erinnerte. Das Beaton-Foto von Revel in Uniform war beinahe berühmt; andere Porträts aus der gleichen Fotosession waren in Büchern erschienen, eins auch in ihrem; doch diese spezielle Aufnahme, auf der er für einen Augenblick jede Pose abgelegt hatte, spitzbübisch die Zungenspitze an der Oberlippe, gehörte ihr ganz allein. Das Beste herausgeholt hatte man aus dem hässlichen Überrock; den Blick für so etwas hatte ihr Revel beigebracht. Der hochgeschlagene Kragen bildete einen Rahmen um Revels schmalen Kopf und den ausrasierten Nacken – er sah aus wie ein unglaublich durchtriebener Schuljunge; nur bei genauem Hinsehen erkannte man die Fältchen um Augen und Mund, die Beaton auf den veröffentlichten Fotos wegretuschiert hatte.
    Im Dunklen erwachte sie aus einem Traum, einem Albtraum beinahe: Es war Krieg, und sie suchte nach ihrer Mutter, klapperte Geschäfte und Cafés ab, fragte, ob sie jemand gesehen habe. Daphne erinnerte sich sonst nicht an ihre Träume, dennoch war sie ganz sicher, dass sie vorher noch nie von ihrer Mutter geträumt hatte; sie war ein Novum, ein Eindringling! Es war beunruhigend, erfrischend, witzig gar – nachdem sie erst mal den Schalter am Kopf der Lampe ertastet, mit zusammengekniffenen Augen die Uhrzeit abgelesen und einen Schuck Wasser getrunken hatte. Freda war 1940 gestorben, die Szenerie mit den Bombenangriffen also durchaus realistisch. Kein Zweifel, die Gespräche mit dem jungen Mann und ihre Versuche, auf seine törichten und ziemlich unangenehmen Fragen einzugehen, hatten die Erinnerung an ihre Mutter geweckt. In dem Interview hatte sie ihre Mutter, deren Erscheinung von 1913 sie gar nicht mehr vor Augen hatte, nur gestreift, was der alten Dame offenbar reichte, um wieder in die Gänge zu kommen, als gierte sie nach Aufmerksamkeit. Daphne ließ das Licht noch eine Weile brennen und hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie sich als Kind auch so verhalten, sich nach ihrer Mutter gesehnt hätte, aber zu stolz gewesen wäre, nach ihr zu rufen.
    Erneut von Dunkelheit umgeben, fand sie sich an einem Wendepunkt; die Erleichterung über den Abschluss des gestrigen Tages ließ unwiderruflich nach, und wie Kummer im Herzen verdichtete sich bereits die Furcht vor dem morgigen – eigentlich schon heutigen. Warum bloß hatte sie gesagt, er dürfe wiederkommen? Warum hatte sie ihn überhaupt herkommen lassen – zumal nach diesem idiotischen, herablassenden Artikel über ihr Buch im Listener, oder war es der New Statesman? Er gab sich als Freund aus – was ein Interviewer vermutlich niemals sein konnte. Paul Bryant … ein kleiner rauhaariger Kläffer, mit der langen Schnauze und Tweedjackett und nervigen Art, sich in etwas zu verbeißen. Daphne wälzte sich auf die Seite, gereizt und verärgert, über ihn und sich selbst. Sie wusste nicht, was schlimmer war, seine leutseligen schwammigen Fragen oder die strengen, spezifischen. Und die ganze Zeit nannte er ihn nur Cecil, nicht, als hätte er ihn gekannt, sondern eher so, als könnte er ihm helfen. »Was war Cecil für ein Mensch?« – so eine idiotische Frage … »In Ihrem Buch schreiben Sie, er habe Sie geliebt – was genau meinen Sie damit?« Darauf hatte sie nur »Nächste Frage!« geantwortet. Das würde morgen ihre Standardantwort werden.
    Und dann noch Robin – Robin hier, Robin da. Was hatte der sich bloß dabei gedacht, ihn zu ihr zu schicken, sogar mit Empfehlung? Obwohl, da erwachte ein vages Begreifen, düster, frivol, beinahe wortlos – diese alte Sache, von der sie nicht mal eine Vorstellung hatte –, drehte sich einmal um und legte sich dann wieder hin, an den Rand ihres Bewusstseins. Aber da war noch etwas, auf seine Art vielleicht sogar ein Segen, dass nämlich der junge Paul Bryant über weite Strecken der Unterhaltung kein bisschen zugehört hatte. Er glaubte, mit ihren schlechten Augen könne sie ihn nicht sehen, nicht sehen, wie er las, während sie redete; dann wieder trieb er sie zur Eile oder kam plötzlich mit irgendeiner völlig

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