Fremden Kind
rot, als von dieser speziellen Manie die Rede war.
»Was ist das eigentlich für ein Bild hinter Ihnen?«, sagte er, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Immerhin förderte dieser Albtraum von einem Zimmer doch kleine Schätze zutage, Trostpreise für das Gespräch, das Daphne zu verhindern suchte.
»Ach, das? Das ist von Revel, wie man sieht«, sagte Daphne, als sei das der Name eines unangefochtenen Meisters.
»Aber das sind doch … Sie!«, sagte Paul.
»Ich hänge sehr an der Zeichnung, nicht Wilfie?«
»Ja, sehr«, pflichtete Wilfrid ihr bei.
»Und von wann ist sie?« Paul stand auf und quetschte sich zwischen der Rückenlehne von Daphnes Sessel und der Stehlampe hindurch, um sich das Porträt aus der Nähe anzusehen. Plötzlich fiel ihm auf, dass Daphne das viktorianische Dickicht aus Möbeln und Krempel auf Corley hier im Haus Olga nolens volens wiederhergestellt hatte. Am Ende siegte doch immer die Unordnung.
»Das ist ein sehr schönes Bild«, sagte Daphne. Es zeigte eine junge Frau mit einem runden Gesicht und dunklem Haar, auf beiden Seiten zu Rattenschwänzen zusammengebunden. Im geöffneten Ausschnitt ihrer Bluse steckte ein dünnes Halstuch. Sie war nach vorn geneigt und hatte den Mund leicht geöffnet, als wartete sie auf die Pointe eines Witzes. Eine Rötelzeichnung, wie Paul meinte zu erkennen, und mit Für Daphne – RR April 1926 signiert. »Wir hatten zu dem Zeitpunkt beide einen schrecklichen Kater, aber ich glaube, das sieht man weder mir noch dem Bild an.«
Paul schmunzelte, wagte jedoch nicht, seine Ansicht zu äußern. Erst als ihm die Jahreszahl auffiel, gewann das Blatt an Bedeutung. »Ich würde mir gerne mehr von seinen Bildern ansehen«, sagte er und bedauerte im selben Atemzug, sich damit eine weitere Ablenkung vom Thema Cecil eingehandelt zu haben, war aber immer noch davon überzeugt, Daphne dahin zurückführen zu können.
»Wirklich?« Daphne schien überrascht, aber fügte sich ihm bereitwillig. »Was hätten wir denn da? Richtig, gucken Sie sich Revels Alben an. Du weißt doch, wo sie liegen, Wilfie.«
»Ja … also gut«, sagte Wilfrid und wiegte den Kopf, als er sie aus einer Kommode hinter seinem Sessel hervorholte. Paul kam allmählich der Verdacht, dass das jahrelang gepflegte Ver säumnis, das Haus aufzuräumen, in Wahrheit eine Tarnung für sein sehr persönliches, aber effektives Ordnungssystem war. »Hier hätten wir schon mal eins.« Man zeigte ihm, viel zu hastig für seinen Geschmack, ein großes, schwarz gebundenes Skizzenbuch von Revel Ralph; es wurde auf Daphnes Knien ausgebreitet, flankiert von Paul und Wilfrid, die höflich die Hälse reckten, um etwas zu erkennen, während Daphne von den raffiniertesten Winkeln aus freimütig auf die Seiten blickte, sie aber so rasch umblätterte, als bereute sie bereits, das Buch überhaupt hervorgeholt zu haben. Es gab Blätter mit georgianischen Häusern, ob ausgedacht oder nach realen Vor bildern, wusste Paul nicht, hübsch, aber auch etwas belanglos, Vorlagen für die Lästerschule, wie Wilfrid behauptete; dann Skizzen von einer anderen Frau mit einem dunklen Hut, die Daphne zufolge Studien für ein Porträt einer Lady Soundso waren, »einer sehr anstrengenden Frau«; und schließlich eine Serie rasch hingeworfener und beseelter Zeichnungen, zehn, zwölf Aktstudien von einem jungen Mann, liegend, sitzend, stehend, eine Reihe idealisierter, dennoch natürlich wirkender Posen, alles herrlich herausgearbeitet, außer dem Glied und den Hoden, deren Ausführung dank eines markigen Bleistiftstrichs, so demonstrativ wie diskret, der Fantasie überlassen blieb, als käme es darauf nicht an. Daphne schien Pauls Interesse zu spüren. »Was ist das denn?«, fragte er und schob das Buch zur Seite, damit sie es erkennen konnte. »Oh, erinnerst du dich noch an ihn, Wilfie? An den schottischen Jungen auf Corley? Revel war ganz vernarrt in ihn und hat viele Zeichnungen von ihm gemacht. Sie wurden dicke Freunde.«
»Ich war damals noch zu klein, um mich an ihn zu erinnern«, sagte Wilfrid und sah Paul über Daphnes Kopf hinweg an. »Ich war erst sieben, als wir … nach London umzogen.«
Dennoch fragte er sich, ob Wilfrid nicht so etwas wie Scham empfand, wenn er in Gegenwart seiner Mutter diese Skizzen sah, die umso gewagter waren, da sie höchst intime körperliche Details zeigten, kleine Studien über die Schenkel des schottischen Knaben, seine Gesäßbacken und Brustwarzen. Und was bloß musste Daphne denken, die einen Mann
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