Fremden Kind
später wurde sie in der Kapelle des Hauses getraut und, wenn auch nur für begrenzte Zeit, Herrin auf Corley.
Hotels eigneten sich wahrlich schlecht zum Arbeiten, wie Paul auffiel, überall um einen herum Lärm – ein Spätaufsteher über ihm hatte den Stöpsel aus der Badewanne gezogen, nun rauschte das Abwasser schamlos gurgelnd und schmat zend durch das Fallrohr wenige Zentimeter vor seinem Tisch; die Putzfrau war schon zweimal vorbeigekommen, obwohl man erst um elf Uhr das Zimmer räumen musste; sie gab sich verdutzt, aber nicht geschlagen, rackerte sich mit dem Staubsauger draußen auf dem Gang ab, ging hin und her und knallte mit den Türen; im Zimmer links von ihm nahm ganz unvermutet eine geschäftliche Besprechung ihren Lauf, unterbrochen von periodischem Gelächter, dem Geschwafel eines Mannes und ab und zu durch die dünne Wand hörbaren, völlig sinnfreien Phrasen. Mit einem frustrierten Stöhnen lehnte sich Paul zurück, erkannte aber bereits die anekdotische Qualität der Szene und nahm sie als Erinnerung an die schwierige Existenz des Biografen in sein Tagebuch auf.
Als er um kurz vor zwei wieder im Haus Olga eintraf, stand die Haustür offen, und er vernahm Wilfrids Stimme aus der Küche, die gleichmäßiger und emphatischer klang als sonst. Verstehen, was er sagte, konnte er zunächst nicht. Er hatte das Gefühl, zufällig in eine höchst intime Situation geraten zu sein, eine Krise möglicherweise. Statt zu klingeln, trat er ein und blieb, die Aktentasche umklammernd, leicht vorgebeugt schüchtern im Flur stehen. Dann dämmerte es ihm: Wilfrid las seiner Mutter vor. »›Hammer dri Aden, die sich stets entziehn‹«, hörte er ihn sagen. Im ersten verwirrenden Moment konnte Paul die Zeile nicht zuordnen, aber dann erkannte er sie natürlich. Hamadryaden, die sich stets entziehn / Im Tanz von Schleiern ganz aus Grün …? Er las ihr »Two Acres« vor, und sie grummelte vor sich hin oder sprach den Text mit, als wolle sie ihm zu verstehen geben, es sei gar nicht nötig, ihr vorzulesen. Vielleicht war es eine Art Einstimmung auf ihr zweites Interview heute, das hatte etwas Beruhigendes, und der Rollentausch – der Sohn, der der Mutter vorlas – etwas eigentümlich Berührendes. »›Oder wie ihre Spur verweht, Im Farn …‹« – »›Im Farn, der bis zur Hüfte steht‹«, funkte Daphne dazwischen. »Du liest einfach nicht gut.«
»Soll ich es lieber bleiben lassen?«, fragte Wilfrid in seiner unendlichen Langmut trocken.
»Ich meine Lyrik ganz allgemein, du hast keine Ahnung, wie man Lyrik vorträgt. Es sind nicht die Fußballergebnisse …«
»Tut mir leid …«
»Die Glocke kündet, dass der Tag verstrichen: eins ; Der Pflüger kommt nun müde heimgeschlichen: zu null «, übertrieb Daphne. »Wenn ich nicht mehr bin, such dir einen Job beim Fernsehen.«
»Sprich … nicht so«, sagte Wilfrid, und Paul, der ihre Gesichter nicht sehen konnte, brauchte eine Sekunde, bis ihm klar war, dass es nicht die spöttische Bemerkung, sondern die Andeutung über ihr Ableben war, an der er Anstoß nahm. Aber tatsächlich – was würde er dann machen? Für einen Moment ratlos schwankend zwischen Zuneigung und Verärgerung Daphne gegenüber, ging Paul auf Zehenspitzen zurück zur Haustür und klingelte.
Genau wie gestern, nur mit entschlossenerer Herzlichkeit, begrüßte er Wilfrid im Flur mit der Frage: »Und wie geht es Ihrer Mutter?«
»Sie hat wohl nicht gut geschlafen«, sagte Wilfrid und wich seinem Blick aus. »Vielleicht besser, wenn Sie … es heute kurz machen.« Paul ging ins Wohnzimmer, schloss das Mikrofon an und überflog seine Notizen. Er hatte das deutliche Gefühl, dass man ihm die Schuld für die schlaflose Nacht gab. Doch als Daphne das Zimmer betrat, erschien sie ihm, wenn überhaupt, eher lebhafter als gestern. Anhand der hilfreichen Hindernisse im Raum bahnte sie sich einen Weg bis zu ihrem Platz und zeigte dabei das leise Lächeln eines älteren Menschen, der weiß, dass er noch nicht abgeschlossen hat mit dem Leben. Paul spürte, dass in der Zwischenzeit irgendetwas vorgefallen war; wahrscheinlich hatte sie nachts wach gelegen und nachgedacht, ihre Lage neu austariert, und nun war es an ihm, im weiteren Verlauf herauszufinden, ob ihre Lebhaftigkeit ein Zeichen für Nachgiebigkeit oder Widerstand war.
»Was für ein schöner Tag«, sagte sie, als sie sich hinsetzte, und nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Wilfrid noch beim Kaffeekochen in der Küche war: »Hat er Ihnen
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