Fremden Kind
aber mehrere, fein gearbeitete alte Ringe, vermutlich Erbstücke. Ihre Kleidung war aus Samt und Seide, weich und zerknittert, schwarz und tiefrot, stilvoll, jedoch nicht betont modisch. Wieder lächelte sie ihn an, und er war sich unschlüssig, ob sie meinte ihn zu kennen oder ganz selbstverständlich davon ausging, dass man seinen Sitznachbarn nicht unbedingt zu kennen brauchte, um sich mit ihm zu unterhalten. In ihrer festen, abgehackten Stimme klang ein Hauch Schadenfreude mit. »Die meisten, die jetzt noch kommen, werden wohl nur einen Stehplatz erwischen.« Mit Genugtuung beobachtete sie die verschämten Anstrengungen der zuletzt Eingetroffenen, die sich an den voll besetzten Reihen vorbeizwängten oder sich abrupt und als würde es ihnen nichts ausmachen auf eine unbequeme Kante oder einen Heizkörper hockten. Ein alter Mann thronte auf der obersten Stufe einer Bibliotheksleiter wie ein Schiedsrichter beim Tennis. Es war erst zehn vor zwei, doch Veranstaltungen wie diese lösten in vielen Menschen einen seltenen Eifer aus. Rob hatte Glück, dass er diesen Platz gefunden hatte, am Ende einer Reihe, aber dafür recht weit vorn. »Waren Sie auch auf der Beerdigung?«
»Nein, leider nicht«, sagte er.
»Ich auch nicht. Ich bin kein Fan.«
»Oh …«
»Ich meine, von Beerdigungen. Ich habe das Alter erreicht, in dem man schmerzhaft feststellt, dass man häufiger auf Beerdigungen als auf Partys geht.«
»Das hier liegt irgendwo dazwischen, könnte man sagen.« Er schlug das gefaltete Programm auf, das neun Sprecher und Redner auflistete. Im Gefühlsüberschwang, mangels Erfahrung oder aus bloßer Eitelkeit würden alle ihre Zeit überziehen, und an das im hinteren Teil der Bibliothek aufgebaute, noch verhüllte Buffet mit der Pyramide glänzender Weingläser käme man nicht vor vier Uhr. Die Bibliothek selbst war pracht voll in ihrer Düsternis, Rob bestaunte die Kolonnen ledergebundener Bücher mit dem skeptischen verstohlenen Blick des Profis. Ein breites Halbrund aus Stühlen nahm den freien Raum ein, öffnete sich zu einem niedrigen Podium mit Lesepult und Mikrofon. Die Kellner in ihren schwarzen Jacken wurden zunehmend unruhig, immer mehr Stühle nachträglich hereingetragen. Ein solches Ereignis musste die gewohnheitsmäßigen Abläufe in einem Klub zwangsläufig durcheinanderbringen, die sonst selbstverständliche steife Ehrerbietung gegenüber einem verstorbenen Mitglied fiel bei diesem höchst gemischten Publikum etwas lockerer aus. Einige Jüngere hatte man genötigt, Krawatten anzulegen, doch eine kleine Gruppe Männer in Ledermontur stand für solche Zwangsmaßnahmen zu weit außerhalb jeder Kleiderordnung, und man hatte sie unbehelligt hereingelassen. Der einzige andere Mann ohne Krawatte war ein Bischof im lila Ornat.
Von seinem Platz aus sah Rob die Gäste in der ersten Reihe im Profil, unverkennbar Familienmitglieder, aber auch Leute, die etwas sagen wollten: Er erkannte Sarah Barfoot, Nigel Dupont und Desmond, Peters Lebenspartner. Vor etwa zehn Jahren hatte Rob selbst eine flüchtige Affäre mit Desmond gehabt und betrachtete ihn jetzt mit der unheimlichen Vorahnung auf das Unvorhergesehene, das bei so einem Wiedersehen hinter allem Erwartbaren lauert. Die anderen Vortragenden ließen sich vielleicht anhand der Rednerliste identifizieren. Dr James Brooke kannte er nicht. Ganz außen saß ein Mann um die sechzig mit einer langen Nase und Brillenkette und überflog maschinenbeschriebene Blätter, vermutlich sein Redemanuskript. Irgendwie schien er an der nervö sen, aber wohlwollenden Stimmung der übrigen Gruppe nicht teilzuhaben, möglicherweise verbargen sich hinter seinem Stirnrunzeln und dem jähen grimmigen Blick ins Publikum nur seine angespannten Nerven; dann entdeckte er einen Bekannten und nickte ihm knapp, aber freundlich zu. Das musste Paul Bryant sein, dachte Rob, der Biograf.
»Wie alt war er?«, fragte Robs Nachbarin und setzte ihre Lesebrille auf.
Er schaute auf die Vorderseite der Karte mit dem kleinen Schwarz-Weiß-Foto und den Worten: Peter Rowe – 9. Oktober 1945 – 8. Juni 2008 – Zum Gedenken. – »Äh – zweiundsech zig.« Das Foto war weniger schmeichelhaft als vielmehr typisch für ihn: Peter in angeregtem Gespräch auf einer Party, ein Glas Wein in der Hand. Gedenkveranstaltungen wie diese widmeten sich mit Vorliebe den Marotten des Verstorbenen. Rob hatte sofort wieder Peters Stimme im Ohr, volltönend, witzig, mitreißend – ein Klang, für den Peter eine
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