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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
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sie sich und lauschte aufmerksam; doch dann, nach etwa zehn Minuten, hatte sie den Eindruck, als würde es sich endlos hinziehen, immer so weiter. Cecils Stimme hatte wie jede Stimme ihre eigene Modulation, die alle Gipfel und Täler der Gedichte mehr oder weniger im Gleichschritt durchmaß, sodass auch die Wörter alle gleich erschienen. »Es ruht das Rehkitz auf dem Rasen« – sie verstand, worum es ging, doch es reizte sie zum Lachen. »Die Liebe kommt nicht immer durch die Vordertür«, sagte Cecil im Predigerton. Sie lehnte den Kopf zurück und schielte wie abwesend hinüber zu Harrys Profil, ernst und erhaben; sein kräftiges linkes Bein ragte vor, zuckte unbewusst im Rhythmus des Pulsschlags. War er gekränkt? Hatte eine zurückliegende Liebesaffäre ihm das Herz gebrochen? Das musste es sein, überlegte sie. Dass man ihn bewunderte, war schwer vorzustellen, doch er war reich, und er gab gerne und großzügig, man sah es an seiner rührenden Aufmerksamkeit gegenüber Hubert; nur wenige wussten Huey so zu »nehmen« wie Harry. Aber er hatte auch eine komplizierte Seite – sein Junggesellendasein war ebenso sehr Warnung wie Aufforderung. Wehmütig lächelnd wandte sie ihren Blick ab. Über die Dauer der Vorstellung heute Abend war nichts gesagt worden; und mit jedem denkbaren Schlusspunkt, der sich anbahnte und kommentarlos überschritten wurde, ohne dass jemand sich verwundert gezeigt hätte, wurde Freda unruhiger, und dann – das Gegenteil von unruhig, als sie nämlich die Augen schloss und versuchte, den Sinn zu erfassen, ohne Cecil dabei anschauen zu müssen, den warmen, wie elektrischen Strom der Geräusche zu genießen, sich Erinnerungen an Situationen, die sich einstellten, und deren vorgegebenen Ablauf vertrauensvoll zu überlassen: eine Unterhaltung mit Miriam Cosgrove an einem Strand in Cornwall, sie mussten packen, es blieb nur wenig Zeit bis zur Abfahrt des Zuges, sie nahmen den falschen Weg zum Hotel, sie verirrten sich hoffnungslos, und dann – war es nur eine Stille, mit der ihr eigenen absonderlichen Spannung, die sie weckte; und sie setzte sich auf und streckte wieder die Hand nach ihrem leeren Glas aus, leicht schwindlig, den Blick getrübt. »Einfach wundervoll«, murmelte sie. Sie musste sich zwingen, wach zu bleiben. »Ein denkwürdiger Abend!«
    »Ich lese Ihnen jetzt meine Lieblingsstrophen vor«, sagte Cecil und trank zerstreut aus seinem Glas – war es Wasser oder Whisky? »Oh, ungesehn und unerkannt –«
    »Oh, ja, ich liebe diese Stelle«, übertrieb Freda wie zum Ausgleich. Ihre Tochter sah sie wütend an.
    »Oh, ungesehn und unerkannt …«
    »Ah …«
    »Trägt nun die Buche braunes Laub, / Sinkt Ahorn hin im eignen Brand.« Mit ausladenden Gesten des rechten erhobenen Arms bezog Cecil den Garten hinter sich ein.
    Plötzlich hellwach, lächelte Freda in die Runde, warf Harry einen beinahe verschwörerischen Blick zu, dieser erwiderte mit einem Kopfnicken, nur angedeutet, aber liebenswürdig. Elspeth, der das nicht entgangen war, senkte den Blick. Es war ein wunderschönes Gedicht, schön und traurig. »Oh, ungeliebt erstrahlt das Glühn / Der Sonnenblume Flammenkranz …« Sie stellte sich vor, dass man es auch anders vortragen konnte, einfühlsamer, oder meinte sie weniger einfühlsam? Jedenfalls ohne diese Westminster-Abbey-Aura. Es hätte auch eine große gewaltige Predigt sein können. Der arme Huey war fest eingeschlafen. Sollte sie ihn vielleicht diskret anstoßen oder ihn auf andere Weise wecken? Wieder spürte sie ein Kichern irgendwo in ihrer Betroffenheit lauern. Oh, lass ihn schlafen. Ihre beiden anderen Kinder flankierten die Bühne wie stützende Portalfiguren, wobei George subtil Cecils Bedeutung widerspiegelte, während Daphnes törichte Miene von dem verzweifelten Wunsch, das Gedicht auf sich wirken zu lassen, ganz angespannt war. Freda sah auf den ersten Blick, dass sie kein Wort verstand.
    Und ungeliebt fließt mancher Bach
    Durch Wiesen über Sand und Stein,
    Zum Mittag oder wenn der Schein
    Des Wagens wird am Himmel wach;
    Wieder einmal zogen Cecils lange und starke Finger alle Aufmerksamkeit auf sich, er hielt sie verrenkt, sodass sie dramatische Schatten auf sein Gesicht warfen –
    Und unbeachtet schirmt der Hain,
    Wo Reiher wohnt und Ralle lebt,
    Der stille Mond, der silbern schwebt,
    Und taucht den Teich in seinen Schein;
    An dieser Stelle blickte er mit der Miene des von erheiterndem Unbill Überraschten auf, fuhr dann aber entschlossen fort:
    Bis

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