Fremdes Licht
über die
Schüssel. Das rote Haar sprang vom weißen Mittelscheitel
fort, ein widerspenstiger, üppiger Rahmen für ein
abgehärmtes Gesicht. Liebe regte sich in Jehannas Brust, und
Verbitterung. Talot war zu dünn, zu nachdenklich, zu…
Würde sie doch bloß mit dieser trübsinnigen
Grübelei aufhören und statt dessen essen…
»Komm, laß uns gehen«, sagte Jehanna. »Auf
dem Trainingsplatz warten sie schon.«
Es dauerte einen Augenblick, ehe Talot aufsah. »Auf dem
Trainingsplatz? Meinst du, sie warten auf uns?«
»Grade hab ich das gesagt! Himmel noch mal, Talot, du
mußt endlich aufwachen! Was bist du? Ein Jammerlappen von einem
Bürger? Mach endlich Schluß damit!«
Talot hätte jetzt eigentlich aufbrausen müssen –
Jehanna hätte sich gefreut. Zorn war gut, Zorn war Leben. Doch Talot stand einfach nur auf. Gegessen hatte sie nichts.
Die Halle hatte sich geleert. Jehanna stolzierte auf den Torbogen
zu. Talot folgte ihr. Die Wände begannen zu sprechen.
Jehannas Hand zuckte zum Waffengürtel – die Wände
hatten nicht mehr geredet, seit die Geds verkündet hatten,
daß sie vorerst von einer Verbannung absahen. Aber was wollte
sie denn mit dem Kugelrohr? Gegen die Wand schießen?
»Menschen in R’Frow«, grollten die Wände auf
ihre monotone Art. »Sieben Menschen sind an einem Hautausschlag
erkrankt. Die Krankheit erzeugt rote schmerzhafte und juckende
Flecken. Die Flecken treten zuerst in den Kniekehlen und Armbeugen,
in den Halsfalten, in den Leisten und in den Achselhöhlen auf.
Von dort aus breiten sie sich über den ganzen Körper aus.
Jeder Mensch, der diese Krankheit bei sich feststellt, sollte sich zu
den Geds in die leere Halle an der Nordmauer begeben. Die Kranken
werden in die Stadtmauer gebracht, dort so schnell wie möglich
geheilt und wieder nach R’Frow entlassen. Die Krankheit ist
nicht tödlich. Sie kann durch Berührung von einem Menschen
auf den anderen übertragen werden. Ein Mensch, der diese Flecken
bei sich feststellt, sollte so bald wie möglich in die leere
Halle an der Nordmauer kommen. Ein Mensch mit dieser Krankheit sollte
keinen anderen Menschen berühren.«
Nach einer kurzen Pause begannen die Wände ihre Botschaft zu
wiederholen. Jehanna wartete nicht, bis sie das Ganze zum drittenmal
wiedergekäut hatten, und trat auf den Pfad hinaus. Über die
Schulter sagte sie: »Hast du irgendwelche Flecken, die
jucken?«
»Nein!« erwiderte Talot unerwartet hitzig. »Und
wenn es so wäre, mich kriegt niemand in die Graue
Mauer!«
»Mich auch nicht. Das hat nichts mit Angst zu tun.«
»Bei mir wohl«, sagte Talot tonlos und nestelte,
während sie Jehanna zum Trainingsplatz folgte, ihre Dreikugel
vom Gürtel.
47
Dahar wachte beim ersten Klopfen auf, und noch bevor er
öffnete, wußte er, wer draußen war.
Sie hatten bis spät abends gearbeitet, alle außer
Ilabor, der noch vor Einbruch der Dunkelheit gegangen war. Ayrid
hatte als nächste aufgehört – das Bein schien immer
noch an ihr zu zehren –, und Grax hatte sie zu einem anderen
Raum gebracht und ihre Tür mit einem Daumenschloß
versehen. Die kleine Hure war ihr gefolgt. Die anderen vier hatten
weitergearbeitet, tief beeindruckt von den Einblicken, die Grax ihnen
in eine Biologie gewährte, die nicht einmal seine eigene
war.
Immer wieder hatte sich Dahars Brustkorb zusammengekrampft, wie
nach einem heftigen Schlag. So viel Wissen – hätten sie
das alles doch früher gewußt. Wenn die Kriegerpriester
nur schon über das Wissen verfügt hätten, das Grax
ihnen jetzt und hier so mühelos an die Hand gab – wie viele
Menschenleben hätten sie retten, wieviel Qual vermeiden
können. Was hatten sie nicht alles falsch gemacht, immer und
immer wieder, nur weil sie wie Blinde herumgetappt waren?
Gegen Abend hatte ihnen der Kopf geschwirrt; sie hatten sich nicht
mehr so recht konzentrieren können. Später dann hatte Grax
von sich aus Schluß gemacht.
»Ich ziehe mich in die Stadtmauer zurück. Ich bin sehr
müde.«
Dahar hatte Grax gemustert und feststellen müssen, daß
er keine Ahnung hatte, wie es aussah, wenn ein Ged sehr müde
war. Nichts an dem Ged schien anders als sonst, weder die
Augenpartie, noch die Haltung des untersetzten Körpers, noch die
steifen Mundwinkel.
Dahar hatte nicht damit gerechnet, sofort Schlaf zu finden. Doch
kaum war er in seinem Zimmer gewesen, da hatte ihn der Schlaf
übermannt… Er machte die Tür auf.
Sie saß regungslos in ihrem Stuhl und sah zu ihm auf. Der
Flur lag still
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