Fremdkörper
muss juchzen. Zwischen dem Keuchen. Wie schön, sie haben es doch noch geschafft. Als ich nah genug bin, fragen sie mich kurz, wie es mir geht. Ich rufe: »Bestens. Alles bestens!« Und das ist noch nicht einmal geschwindelt. Denn wirklich: Ich spüre nichts mehr. Keinen Schmerz, kein Zwicken, kein Ziepen. Stattdessen drehe ich mich noch ein paarmal um und wedele ihnen ein strahlendes »Auf Wiedersehen« zu. Plötzlich läuft es wieder. »Es« bin in dem Fall ich. Dr. Glücksgefühl und Dr. Liebe sind meine Lieblingsärzte.
KM 16
Wie gesund Zuwendung, positive Gefühle und erst recht Glücksmomente machen, oder zumindest wie viel Kraft ich daraus schöpfen konnte, das habe ich in diesem Jahr wirklich oft genug gemerkt. Auch wenn es diese Form der Medizin nicht auf Rezept gibt und ihre Wirkung bestimmt noch nicht ausreichend wissenschaftlich nachgewiesen wurde. Ich fühle mich wie der lebendige Beweis für ihre Effektivität. In den vielen Stunden zu Hause, in denen ich meinen Gedanken nachhing, bin ich aber auch noch zu anderen Erkenntnissen gekommen. Natürlich habe ich mir auch trotz und wegen aller – vielleicht sogar überstrapazierten – Selbstdisziplin die Frage gestellt, die ich eigentlich nie hätte formulieren dürfen. Die ich mir selbst verboten hatte. Die nach dem Warum. Es gibt keine Antwort darauf, sagen alle, die meinen, etwas dazu sagen zu müssen. Ich habe dennoch meine Antwort gefunden. Für mich hat dieser Schicksalsschlag, sofern man ihn denn überhaupt als solchen bezeichnen soll, einen Sinn gehabt. Klingt hart. Ich weiß. Bin aber nicht alleine, mit so einem Gedanken.
Lance Armstrong zitiert in seinem Buch einen Mitpatienten, der ihm trotz der tragischen, unaufhaltbaren Entwicklung, die die Krankheit Krebs nehmen kann, sagt: »Wir sind Glückspilze.« Ich war zunächst entrüstet. Denn mein Glück finde ich nicht, wenn ich dem Gevatter in die Augen schaue. Was er meint, wird mir erst später klar. Ich habe meinen Sinn gefunden. Denn es fällt mir leichter, mit einem sinnvollen Schmerz umzugehen als mit einem unsinnigen. Das Leben, Gott, wer auch immer hat mich durch die Krankheit vor einer Zukunft bewahrt, in der für mich vermutlich alles möglich und machbar gewesen wäre. Nur nicht die Liebe zu mir selbst. Die Pille war bitter, die Medikamente brutal. Aber so geheilt und gesund, physisch und psychisch wie in diesen Tagen, habe ich mich mein halbes Leben nicht mehr gefühlt.
Deswegen habe ich meinen Frieden gemacht mit der Tatsache, dass meine Zellen eine Zeit lang Krieg untereinander hatten. Und ich gehe noch einen vielleicht schwer nachvollziehbaren Schritt weiter und sage: Danke für diese guten Sorgen.
KM 17
Meine Überlegungen drehen sich, ob ich will oder nicht, immer noch oft um das eine Thema. So wie ich gerade jetzt meine Runden um den See. Die zweite habe ich gleich geschafft und merke, dass die Füße anfangen zu schlurfen. Es wird Zeit, dass dieser Lauf ein Ende nimmt. Mir geht ein bisschen die Puste aus. Das gilt in meinem Alltag auch für das Gedankenkarussell um den Krebs. Ich spüre mit fast körperlichem Unwohlsein, dass, wenn von Bekannten nachgefragt, meine Erfahrungsberichte mit der Krankheit immer kürzer und vereinfachter werden. Je schneller die Story rausgeplappert ist, umso besser. Und am liebsten auch nicht mehr so viele Nachfragen. Ich mag jetzt, wo fast alles (die Therapie) um ist, nicht mehr ständig darüber reden. Und auch nicht mehr ständig darüber nachdenken. Das ist natürlich extrem unfair. Denn die, die fragen, die tun das ja in der Regel, weil sie besorgt sind oder besonders an mir als Mensch interessiert. Eigentlich verdiente jeder eine zufriedenstellende Antwort. Nur habe ich die einfach zu oft geben müssen.
Interessanterweise fällt mir das Erzählen bei zurückhaltenden Gesprächspartnern immer leichter als bei den penetranten. Wenn keiner fragt, dann sage ich am meisten. Das ist bei anderen anders. Bestimmt. Vielleicht auch nicht. Gleichermaßen weiß ich, dass mich diese Sache so schnell nicht loslassen wird. Allein die engmaschigen Untersuchungen, die immer noch häufigen Arztbesuche und nicht zuletzt die Kurzhaarfrisur, die mich einige Monate begleiten wird, sind lebhafte Erinnerer an das, was jetzt hinter mir liegt. Diesen Umstand muss ich einfach akzeptieren. Ich werde noch eine Weile die Ex-Krebspatientin sein. Ob ich will oder nicht. Denn mit der Ungeduld, dieses Kapitel am liebsten jetzt schon als verjährte Vergangenheit
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