Fremdkörper
über die drei nachdenke: Ob deren Härchen wohl auch erst vor Kurzem das Licht der Welt erblickt haben? Oder waren sie niemals entwurzelt, sondern immer bei fiesen Friseuren? Natürlich werde ich das nie erfahren. Es ist letztlich auch egal. Ich halte für mich zweierlei fest: Zum einen wird diese Sensibilisierung für meinesgleichen wohl ab jetzt ein Begleiter sein. Und außerdem hat mich deren Anblick froh gestimmt. Vielleicht noch welche, die auf die Barrikaden gehen. Und einer (möglichen) Krankheit davonlaufen. Verbündete in Sicht.
KM 13
Familie, Freunde in Sicht? Bis jetzt noch nicht. Ich bin am Südsee angelangt und arbeite mich gerade durch eine gold-rote Herbstlandschaft vorwärts. Hoffentlich haben sie überhaupt hierhergefunden. Konnten die Autos irgendwo parken. Die Sorge wird abgelöst von ersten Muskelzickereien im Oberschenkel. Die Geschwindigkeitsanzeige meiner Kontrolluhr bestätigt, was ich mir gerade gedacht habe. Ich bin über die vergangenen Kilometer schneller geworden. Da hab ich mich doch von den Läufern hinter mir treiben oder von denen vor mir ziehen lassen. Kein gutes Tempo für mich. Die Füße, das fühle ich jetzt auch, haben Blasen geworfen. Der Magen murrt und weiß nicht so recht, ob er was zu essen oder seine Ruhe will. Also einen Gang runter und in den lockeren Dauerlaufmodus. Zumindest so lange, bis mein Körper wieder mehr kann. Meine Zipperlein in ihrer Gesamtheit betrachtend ist die Bestrahlungstherapie bisher ein regelrechter Sonntagsspaziergang gewesen. Ich habe nur noch eine Woche vor, also das meiste schon hinter mir. Müde war ich, ging zur Ruh und schloss beide Äuglein zu – wenn es gar nicht mehr ging. Aber das kam nicht wirklich oft vor im vergangenen Monat. Hin und wieder war mir mal ein bisschen mulmig nach der kurzen 2-Minuten-Strahlen-Sitzung. Und die Haut hat sich etwas dunkler verfärbt. Aber meine Pigmente sollen im unmittelbar bevorstehenden Kur-Urlaub sowieso noch Arbeit bekommen. Insofern auch das kein Kummergrund. Was mich kümmert, ist nur die Frage, wo wohl die Liebsten abgeblieben sind.
KM 14
Naja, die sind ja alle schon groß. Da soll die Mama Miriam sich einfach mal ein kleines bisschen in Lässigkeit üben. Gell? Mit Schokolade oder Klebebildchen lässt sich keiner von denen mehr in den dunklen Wald locken. Also, keine Aufregung. Es fällt mir immer noch schwer, diese manchmal mütterliche Überverantwortung abzulegen. Es nervt mich sehr an mir selbst. Und anderen geht das mit Sicherheit auch auf den Geist. Daher arbeite ich daran, diese außerordentliche Fürsorglichkeit abzulegen. Genauso wie ich die Summe und Qualität meiner Erwartungen an mich selbst einem normalen Maß angepasst habe. Weg von den unerreichbaren Zielen. Das ist auf Dauer so ermüdend und entmutigend. Niemals anzukommen. Ich habe viel mit meinen Freundinnen über dieses Thema gesprochen. Während die einen sich im Schlaraffenland der stressfreien Erwartungslosigkeit befinden, schmoren die anderen im Vorhof der Karrierehölle. Und drohen, wie ich einst, am eigenen Anspruch, der Ungeduld und überdimensionalen Erwartungen an sich und andere zu verbrennen. Ich will gar nicht behaupten, dass ich schon ganz raus bin aus diesem Fegefeuer der Eitelkeiten. Aber zumindest den Kopf habe ich schon rausgereckt in eine Welt mit klarer Luft und nicht so viel Hitze unterm Hintern. Und da will ich hin. Auch wenn ich noch viel Weg vor mir habe.
KM 15
Langsam werde ich sauer. Meine Beine stellen sich gerade fürchterlich an. Und ich weiß nicht so genau, warum. Während meines Trainings bin ich zweimal sogar 17 Kilometer gelaufen. Warum also machen die beiden jetzt seit fast zwei Kilometern schon so einen Aufstand? Verstehe ich nicht. War es vielleicht doch ein Fehler, die gesamte Strecke nicht wenigstens einmal vor diesem Lauf zu testen? Bin unsicher. Mein Computer-Trainingsprogramm hatte keine 21-Kilometer-Einheit vorgesehen. Das bedauere ich gerade ein bisschen. Die Muskeln schmerzen. Meinem Empfinden nach sitzt die Kniescheibe locker und wabbelt sich von links nach rechts und zurück. Jeder Schritt hat etwas von einem Gang durch Wackelpudding.
Und die Füße, die brennen. Das heißt, die Blasen dürften kaputt gescheuert sein. Immerhin. Ich seufze gerade einmal mit hörbarem Jammerton, als ich hinter einer großen Eiche Thoms Bruder und seine Frau sehe. Oh, welch Freude! Sie springen laut lachend von der Bank auf. Sie winken und klatschen, sie machen Fotos und rufen meinen Namen. Ich
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