Fremdkörper
abzuschließen, komme ich auch nicht weiter. Genauso wenig nützt mir Ungeduld trotz Erschöpfung bei Kilometer 17. Vier weitere muss ich mir noch erlaufen.
KM 18
Fünf weitere Tage Bestrahlung stehen noch auf meinem Plan. Und dann habe ich es geschafft. Wobei von »schaffen« nicht wirklich die Rede sein kann. Denn sonderlich anstrengend war die Radiatio, wie schon beschrieben, wirklich nicht. Gut, ich musste die werktägliche Strahleneinheit in meinen Tagesablauf integrieren wie das Postholen oder Einkaufen. Aber für einen absehbaren Zeitraum von insgesamt fünf Wochen lässt sich auch so etwas organisieren. Der Akt selbst ist, wie gesagt, recht unromantisch und ziemlich schnell erledigt. Alles in allem bin ich nach spätestens 20 Minuten mit allem fertig. Wenn es lange dauert. Die Therapie dauert jedenfalls nicht mehr lang. Und dann? Tja, dann kommt das große, schwarze Loch. Sagen die, die in ebenjenes reingeplumpst sind. Die Zeit nach den Behandlungen sei nicht leicht.
Monatelang hatte man eine Aufgabe, und auf einmal ist da nichts mehr. Nichts ärztlich Verordnetes, was man tun kann, um diesem Krebs auf Lebenszeit den Garaus zu machen. Was bleibt, ist Angst. Die alte Angst kommt wieder, dass der Krebs wieder kommt. Darauf habe ich nicht die geringste Lust. Also bespreche ich die Angelegenheit mit meiner Dr. Lauckmann. »Wir haben das Maximum dessen getan, was wir tun konnten. Sie haben das geschafft. Das hat Ihnen richtig was gebracht. Also keine Angst.« – »Keine Angst?« – »Nein. Keine Angst.« So einfach gesagt. So schwer getan. Ich weiß nicht, ob es mich erwischt oder ob ich davonkomme. Eine Sache behalte ich jedenfalls bei, um die Angst nicht mehr in mein Leben zu lassen, und das ist das Davonlaufen. Das hilft meiner Seele und meinem Körper. Und ich habe doch noch etwas zu tun.
KM 19
Die Knochen tun weh. Die Fasern auch. Aber ich empfinde es nicht mehr als beeinträchtigend. Es sind nur noch so wenige Kilometer. Ich habe den größten Teil der Herausforderung gemeistert. Beider Herausforderungen. Wenn ich auf die Zeit der Chemotherapie zurückblicke, muss ich sagen, dass die Geschichten darüber grausamer, beängstigender und einschüchternder waren als jede Realität. Was auf der einen Seite verwundert, da man mich ja freundlicherweise mit der extrastarken Dosis bedacht hatte. Andererseits aber auch den großen Fortschritten der Wissenschaft zu danken ist, die mit immer besseren Mitteln die Nebenwirkungen minimieren kann. In Sachen Müdigkeit – Fatigue-Syndrom – habe ich mich von Anfang an quergestellt. Und sie nur bedingt zugelassen. Oder ihr nachgegeben. Wenn es nicht anders ging. Und auch die Übelkeit, häufig als fieseste aller Begleiterscheinungen genannt, hielt sich bei mir sehr in Grenzen.
Ob ich Glück, eine brauchbare Gesamtkonstitution oder Gott einen guten Tag hatte, weiß ich nicht. Ehrlicherweise müsste ich für mich sogar feststellen, dass jeder Magen-Darm-Virus, der länger als zwei Tage zu Besuch kommt, zermürbender und demoralisierender ist als alles, was ich während der Chemo erlebt habe. Wann immer es allerdings so gemein wurde, dass sich mein Elend groß und der Optimismus klein machte oder mir das Selbstmitleid an der Unterkante Oberlid stand, habe ich mich gezwungen, ans Durchhalten zu denken. Durchhalten. Einfach noch ein bisschen durchhalten. Denn: Was, in aller Welt, sind sieben Monate schon im Verhältnis zu einem ganzen Leben?
KM 20
Ich atme hörbar. Keuchen nennt man so etwas wohl. Durchhalten. Bloß nicht aufgeben. Alles Schlimme geht vorbei. Und es gibt Schlimmeres als schmerzende Kniee oder ein Stechen im Bauch. Du hast es gleich geschafft. Alles Schlimme geht vorbei. Jeder gelaufene Meter verkürzt den Rest. Was ist ein kleiner, kurzer, verbleibender Kilometer im Verhältnis zu fast 20, die hinter dir liegen? Nicht stehen bleiben. Das Schlimme geht vorbei. Zähne zusammenbeißen, Superwoman. Nicht stehen bleiben. Lass die Beine laufen. Die können das ganz gut alleine.
KM 21
Die letzten knapp hundert Meter. Ich sehe das Ziel. Und meine Familie und Freunde. 21,0975 Kilometer werde ich gleich hinter mich gebracht haben. Großzügig gerundet beinahe 22 Kilometer ohne eine einzige Pause. Genauso viele Wochen Therapie, 22, habe ich durchlaufen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Die letzten Meter verschwinden unter und hinter meinen Füßen. Ich sehe euch schon, ihr Lieben! Seht, ich komme! In wenigen Augenblicken habe ich es geschafft. Gleich bin ich da.
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