French 75: Ein Rostock-Krimi
zwischen ihnen überhaupt nicht auffiel. An ihn würde sich niemand erinnern. Er musste zwei leicht Betrunkene abwehren, die so guter Laune waren, dass sie ihre Mitreisenden mit Weißwein versorgen wollten. Gern hätte er sie gefragt, was es zu feiern gab, aber er hielt es für schlauer, genauso abwesend wie die anderen Fahrgäste der Linie S zwei zu schauen.
Tim erreichte in Gesundbrunnen sogar noch die abendliche Zugverbindung nach Rostock. Jetzt war ihm nach einem großen Schluck Bier, und er freute sich, auf der Station noch zwei Büchsen ergattert zu haben. Sie waren kalt und perlten außen. Er öffnete eine, trank lange und lehnte sich dann zurück. Tim lächelte seinem Spiegelbild zu.
Er saß im Doppelstockzug oben. Nur wenige Reisende waren hier hinaufgekommen, und niemand störte ihn mit einem Handy oder mit zu laut eingestellten Kopfhörern. Er war wieder unter Norddeutschen, die die Magie der Stille so liebten.
Er stellte sich das Lachen der drei Jungs von Britta Lind vor. Wie sie nach Hause kamen und erfuhren, dass sie vom Joch der allein erziehenden Mutter erlöst waren. Ihre Erleichterung stellte er sich vor, wenn ihr Vater sie zu sich nahm und sich um ihre Erziehung kümmerte.
Das hatten die Jungs ihm zu verdanken. Er hatte den Vater gezwungen, sich wieder um seine Söhne zu kümmern.
Welch herrliches Gefühl, dachte er, helfen zu können. Wie schön, am Gleichgewicht der Welt mitwirken zu können.
Rasch trank Tim auch die zweite Büchse Bier aus, ehe sie noch warm wurde. Bald darauf nickte er ein, wurde aber vom Schaffner geweckt. Tim erwarb mit seiner Kreditkarte einen Fahrschein und war über das Wecken nicht böse. Seine Blase war sowieso voll.
»Wir haben auch Erste Klasse hier«, sagte der Schaffner, der die Plastikkarte hin und her drehte, ehe er sie in seinen Apparat einführte und Tim wartend ansah.
»Erste Klasse?«
»Die Sitze sind bequemer. Und als Bonus bediene ich Sie heute mal am Platz! Auch mit Bier aus dem Hahn, falls Sie mögen.«
»Und die Toiletten?«
»Ein Gedicht!«
Sie lachten, ehe Tim das Angebot annahm. Er wechselte in die bessere Klasse und bestellte ein Glas frisch gezapftes Bier. Wann denn, wenn nicht heute?
XXV
Endlich in Marseille. Er verließ den Bahnhof und ließ sich mit dem Taxi sofort zum Krankenhaus Maria Empfängnis bringen. Endlich konnte er den Hügel hinaufsteigen und sich auf die Terrasse stellen. Tobias sah im Norden die ferne Bergkette, im Westen das Glitzern des Mittelmeeres. Der Poet drückte die Knie gegen die niedrige Brüstung und beobachtete das tausendfache Funkeln der See. Es wehte ein leichter Wind, gerade stark genug, niedrige Wellen zu erzeugen, die immer wieder das Sonnenlicht brachen, das auf die Wasseroberfläche traf.
Der Poet atmete aus. Er war auf dem Weg nach Marokko, um einen Literaturpreis für Völkerverständigung entgegenzunehmen. Dreitausend Euro, von denen er einen Teil an ein Aidsprojekt zu spenden hatte. Tobias dachte in diesem Moment aber nur an seinen berühmten Vorgänger, der vor einhundertzwanzig Jahren hier zu Tode gekommen war. Endlich stand er hier, und fast wäre er auf die Knie gefallen. Tobias wagte kaum zu atmen. Hier hatte der Sterbende seiner Schwester einen der mysteriösesten Abschiedsbriefe der Weltliteratur in die Feder diktiert:
Eine Last: ein Zahn allein.
Eine Last: zwei Zähne.
Eine Last: drei Zähne.
Eine Last: vier Zähne.
Eine Last: zwei Zähne.
Was sollte das bedeuten? Wie oft hatte Tobias sich das schon gefragt. Schließlich hatte er geglaubt, nur am Sterbeort selbst die Antwort finden zu können. Aber hier gab es keine Lösung, auch hier nicht. Tobias sah sich um und dachte: Jede vergebliche Liebe lässt ihre Narben zurück.
Was hatte Rimbaud gemeint, als er hier am zehnten November achtzehnhunderteinundneunzig verstarb? Kurz nach dem Diktat. Mit siebenunddreißig Jahren unter entsetzlichen Qualen. Rimbaud, französischer Nationaldichter. Rimbaud, dessen Werke von jungen Menschen überall auf der Welt geliebt wurden.
Der Poet zog die Kopie von Rimbauds vorletztem Brief hervor und las ihn:
Warum lernt man nicht Medizin auf der Schule, mindestens so viel, daß man nicht solche Dummheiten macht?
Wenn mich jemand im selben Fall wie dem meinem um Rat fragte, würde ich ihm antworten: Steht es so – dann lassen Sie sich nicht amputieren! Lassen Sie sich zerhacken, zerfetzen, ganz in Stücke reißen, aber dulden Sie nicht, daß Sie nur amputiert werden. Wenn es Ihr Tod ist, wird es
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