French 75: Ein Rostock-Krimi
werde charmant zu deinen Freunden sein, sie werden uns alle beneiden.
Ich bin krank, fiebrig, so anders, aber ich fühle mich kerngesund und unbezwingbar. Man lebt mit der Krankheit, sie erhebt mich über das Grau anderer Gesichter. Du schweigst dein riesengroßes Ja – und mir steigen Tränen in die Augen.
»Hallo? Wer ist denn da? Hallo? Hallo?«
»Markt- und Meinungsforschungsinstitut ist hier. Beantworten Sie uns doch bitte ein paar Fragen zu aktuellen Themen. Ihr Haushalt wurde zufällig ausgewählt. Jetzt können Sie mal Ihre Meinung loswerden!«
»Ach, junger Mann, ich bin zweiundsiebzig Jahre alt! Zweiundsiebzig Jahre! Und zerbrechlich! Ich schlafe schon! Gute Nacht, junger Mann!«
»Gute Nacht!«
Soweit man weiß, wird jeder im Leben einen bestimmten Kurs einschlagen, den die Abdrift dann allerdings nach Lust und Laune verändert, so dass sogar der Intelligenteste seine Tage im falschen Hafen beschließt.
»Was gibt’s Paul? Du, Paul, wenn du das bist, ich kann heute nicht mehr kommen, mein Mann kommt früher zurück! Ich habe …«
»Guten Tag, Markt- und Meinungsforschungsinstitut ist hier.«
»Markt und was? Meine Meinung ist, nicht mit mir! Schönen Abend noch!«
Schönen Abend? – Schöner Dienstagabend! , dachte er und steckte sich den Zettel mit der Berliner Adresse in die Brusttasche seines blauen Hemdes.
XXIV
Der Dienstag war endlich da. In den letzten Tagen hatte Tim viele Überstunden geschoben, um sich abzulenken. Und um nachdenken zu können. Er konnte beim Herumtelefonieren immer gut nachdenken, das hatte er schon früh gemerkt. Deswegen war er auch bei diesem Job mit der miesen Bezahlung geblieben, deswegen und wegen der Tatsache, so am besten seine Pläne verfolgen zu können.
Er beobachtete das Haus schon seit zwei Stunden. Tim hatte Zeit. Es stand tatsächlich separat und war von der Straße nicht einsehbar. Alte Bäume senkten ihre Zweige bis auf die zwei Meter hohe Mauer. Er lag auf dieser Backsteinmauer, von den Bäumen verborgen und sah durchs Fernglas. Vor zehn Minuten war er zusammengeschrocken, weil ein Auto die Auffahrt hinaufgefahren war, doch dann hatte er sich beruhigt. Die Jungs von Britta Lind wurden abgeholt, um ins Kinderferienlager am Wannsee gebracht zu werden, hatte er von der Homepage der Schule erfahren. Sie verbrachten dort eine ganze Woche, und wenn sie wieder nach Hause kamen, dann war alles für sie erledigt. Dann begann ihr richtiges, ihr wertvolles, ihr gutes Leben. Er stellte das Fernglas nach, beobachtete, wie die Jungs in das Auto stiegen, wie ein Mann sich korrekt von der Frau Professorin verabschiedete, die an der Haustür zurückblieb und winkte. Als das Auto abgefahren war, sah sie auf die Uhr, dann öffnete sie noch einmal den Briefkasten und schüttelte den Kopf.
Ganz recht! , dachte er. Du wirst keine Prospekte und Materialien finden. Du wirst heute auch keinen Anruf bekommen.
Er lächelte und wartete, bis sie die Haustür verschlossen hatte, ehe er sich von der Mauer rollte und auf feuchter Erde landete. Wie gut er die Menschen doch kannte! Kaum waren die Kinder weg, holte die Frau Professorin den Wachhund ins Haus. Er bellte zwar an der Haustür, aber die Herrin holte ihn zurück ins Zimmer.
Tim Leidger schlich sich an die Hauswand, duckte sich und packte das Rindfleisch aus. Man konnte ja nie wissen! Tim nahm das rohe Fleisch in die Hand und schlich zum Kücheneingang. Er hatte sich den Grundriss dieser Häuserart im Internet angesehen. Sie stammten alle aus der Zeit der Industrialisierung und waren für die Familien von Ingenieuren in Ballungsgebieten gedacht gewesen. Er wusste, dass es eine Küchentür zum hinteren Garten gab. Was waren Hunde schon wert, wenn man ihr Gebell nicht ernst nahm? Er hockte sich neben die Tür und begann, mit einem Schweizer Taschenmesser den Kitt vom Rand der unteren Glasscheibe der Tür zu kratzen, der sie im Rahmen hielt. Tim hatte Zeit, er ließ sich auch nicht vom Hund stören, der ihm von der Küche aus zusah und immer wieder auf das Rindfleisch starrte. Tim Leidger strahlte Ruhe aus. Der Hund schöpfte keinen Verdacht, war Tim doch in diesem Moment aus tiefster Seele freundlich, ausgeglichen und zufrieden mit sich und der Welt; der Hund spürte das, er war ja nur ein Hund.
Leidger drückte die Messerspitze am oberen Scheibenrand ins Rahmenholz, winkelte das Messer ein wenig an und holte so die Scheibe heraus. Der Hund stürzte sich sofort auf die zwei Kilogramm Rindfleisch. Er hatte
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