French 75: Ein Rostock-Krimi
aber erst einen Bruchteil geschafft, als ihm weißer Schaum aus dem Maul drang und er lautlos verstarb. Tim deckte ihn zu, ehe er ins Haus der Rimbaud-Spezialistin schlich. Sie lag auf der Couch und sah fern. Bevor sie ihn entdecken konnte, verschwand Tim wieder im Flurdunkel. Das wollte er doch zuerst mal sehen, ob sie wirklich eine Spezialistin war! Ihm mit Rimbaud zu kommen! Ihm! Er schlich die Innentreppe hoch und fand wenig später das Arbeitszimmer. Er musste ein anerkennendes Pfeifen unterdrücken.
Rimbauds Werke standen in einer Vitrine, deren Licht sich automatisch anschaltete, wenn die Schranktür geöffnet wurde. Tim sah nicht nur die üblichen Gedichtsammlungen, er fand auch die seltenen Ausgaben aus Hohenzell. Ganz unten lagen Kopien der Briefe des Dichters, jener wenigen Briefe, die seine Schwester in ihrem falschen, naiven und religiösen Wahn nicht verbrannt hatte. Seine Schwester und das Krokodil, diese beiden Frauen, die Jean Nicolas Arthur Rimbaud so gedemütigt und verbogen hatten. Es fand sich sogar eine Kopie des Theaterstückes von Paul Zech, unaufführbar, sicherlich, wie das ganze Leben Rimbauds. Tim musste sich mit Macht von der Vitrine lösen. Er hielt ein zerlesenes Exemplar in der Hand, das er noch nicht kannte. Es stammte aus der untergegangenen DDR und das Titelbild zeigte Rimbauds berühmte Gräber, auf denen Poes Raben saßen. Tim blätterte darin, schloss die Vitrinentür und kam ins Grübeln. Im Text fanden sich unzählige Anmerkungen und Unterstreichungen. Sie zeigten ihm, dass ein wirklicher Verstand sich mit Rimbauds Werken befasst hatte. War er auf dem Holzweg? Sicherlich, diese Frau war alleinerziehend und malträtierte ihre Söhne mit der Waffe Leben zu Tode, wenn man sie ließ, aber sie war doch auch wirklich eine Kennerin von Rimbauds Leben, Werk und Sterben. Was könnte er mit dieser Frau zusammen entdecken, wenn das Schicksal ihn nicht so sehr prüfen würde. Sollte er die Prüfung bestehen, oder sollte er die Frau verschonen, um mit ihr Rimbauds Erbe angemessen wiederzubeleben? Stand er hier am Scheidepunkt oder sollte er weitergehen? Musste er nicht weitergehen? Er konnte sie nicht verschonen! Er musste sich den Besitzerinnen der Waffe Leben entgegenstellen, es ging um den Fortbestand der Söhne, die nicht weiblich erzogen werden durften. Tim steckte sich das Taschenbuch hinten in die Hosentasche und verließ das Arbeitszimmer. Wie schade, dass Gnade nur eine Erfindung von Theoretikern war.
Er kam die Treppe herunter und sah auf Britta hinab, die sich auf der Couch streckte, um an das Glas Rotwein zu kommen, das auf dem niedrigen Tisch stand. Im Fernseher lief eine Dokumentation über das Aussterben von Eisbären. Mal wieder. Er sah den weißen Pelzen zu, die durch das kalte Nordwasser schwammen und keine Eisschollen mehr fanden, auf denen sie sich erholen konnten. Nach und nach gingen sie unter, nicht ohne ein letztes Gebrüll.
»Isabelle? Isabelle?«
Nicht zu fassen! Diese Frau hatte es gewagt, ihre Hündin nach der Schwester Rimbauds zu benennen! Sofort stieg Zorn in Tim hoch. Dieses dumme, hässliche Weibsbild, das am Sterbebett des Dichters noch so viel Unheil angerichtet hatte. Tim musste tief durchatmen und sich zur Besonnenheit zwingen.
»Wo steckst du, Isabelle?«
Er holte das ausgeklappte Taschenmesser aus der Jacke und näherte sich Britta. Ihm war klar, dass sie ihn in der Scheibe der Verandatür sehen würde, aber er wusste auch, dass es dann für sie zu spät war. Er wollte es ihr so leicht wie möglich machen, daher setzte er sein charmantestes Lächeln auf, als er sich von hinten leicht über Brittas Kopf beugte. Ihre Augen schrien die Glasscheibe an. Tim drückte die Stirn nach unten und setzte schnell den präzisen Schnitt. Das Blut spritzte aus der Kehle hervor, in Intervallen. Das Herz pumpte, bis nichts mehr da war, was sich zu pumpen lohnte. Das nasse Rot sickerte in den teuren Couchstoff. Tim Leidger wischte das Messer am Haar des Opfers sauber und klappte es zusammen. Er steckte es zurück in die Innentasche seiner Jacke, und als er wieder auf der Straße war, zog er sich die Handschuhe aus.
Mit dem gestohlenen Fahrrad fuhr er zurück zur S- und U-Bahnstation Pankow, stellte es an die gleiche Stelle zurück und legte das geknackte Schloss so um den Hinterreifen, dass man den Defekt nicht sehen konnte. Tim mischte sich unter die hauptsächlich jugendlichen Fahrgäste, die ins Zentrum von Berlin wollten, und stellte erfreut fest, dass er
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