French 75: Ein Rostock-Krimi
immer noch besser sein als dies Leben mit weniger Gliedern! So haben es viele gehalten, und stünde ich noch einmal davor, würde ich dabei bleiben! Lieber ein Jahr lang wie ein Verdammter dulden als amputiert sein!
Dies ist das schöne Ergebnis: Ich sitze, und von Zeit zu Zeit erhebe ich mich, und hüpfe hundert Schritt auf meinen Krücken, dann setze ich mich wieder. Meine Hände können nichts mehr halten. Beim Gehen kann ich den Kopf nicht von meinem einzigen Fuß und vom Ende der Krücke abwenden. Kopf und Schultern biegen sich nach vorn, ich wölbe mich wie ein Buckliger, ich zittere, wenn ich die Leute oder die Dinge ringsum sich bewegen sehe, in Angst, sie könnten mich umstoßen und mir auch die zweite Pfote brechen. Natürlich lachen sie bei meinem Gehüpf. Wenn ich mich niederlasse, zucken mir die Hände, die Achselhöhle ist wie zerschnitten, mein Gesicht ist das eines Blödsinnigen. Verzweiflung überfällt mich, und ich sitze da wie ein vollständiger Krüppel, greinend, auf die Nacht wartend, die mir ewige Schlaflosigkeit bringt, auf den Morgen wartend, der noch trauriger als der Abend werden muß, und so weiter. Fortsetzung in der nächsten Nummer.
Mit allen guten Wünschen.
Rimbaud
Tobias schlug mit der Faust auf die niedrige Brüstung. Nirgends eine Bergkette wie eine Reihe Zähne, auch nirgends Inseln auf dem Meer. Es konnte nur so sein, wie es zwar vermutete, aber nicht beweisen konnte: Diese Zähne, das waren die Zähne des Krokodils, das ihn in den Tod gejagt hatte. Es waren die Reißer der Mutter, die ihm auf seinem vorletzten Brief nur knapp telegrafiert hatte: Ich fahre. Ankommen morgen abend. Mut und Geduld. – Wwe Rimbaud.
Mut und Geduld? Was für eine entsetzliche Mutter, dem sterbenden Sohn mit Mut und Geduld zu kommen! Der Poet dachte: Es war die Mutter, die ihn umgebracht hat. Sie hat ihn mit ihren Reißzähnen gejagt, bis er nicht mehr konnte. Bis er amputiert wurde und krepierte. Warum müssen die Söhne immer die Gefühle der Mütter ausbaden? Ein Kind weiß nichts von der Kindheit der Eltern, gar nichts!
Tobias winkte nur ab, als ihn eine Krankenschwester fragte, ob er etwas suche. Er stieg vom Hügel und ließ sich zum Hafen fahren. So viel hatte er sich erhofft, doch nichts hatte sich erfüllt. Es gab hier keine Zähne in der Landschaft, die der Sterbende zuletzt gesehen haben könnte. Die Ahnung wurde ihm zur Gewissheit: Witwe Rimbaud hatte den Nationaldichter in den Tod getrieben, ihren Sohn.
Pawel Höchst glaubte, zu spinnen, als er die Nachrichten hörte. Der Meistermörder hatte erneut zugeschlagen. Diesmal in Berlin, Berlin-Pankow. Bessere Wohngegend, früher von DDR-Bonzen bewohnt.
Er sah auf die Uhr, ehe er aus dem Büro stürmte und wenig später mit seinem alten Peugeot auf der Autobahn Richtung Süden war. Dieser Peter Pan, Pawel musste sehen, was er hinterlassen hatte. Er musste die Umstände der Ermordung vor sich haben. Denn er war es, der den Meistermörder zur Strecke bringen würde.
Es war sechs Uhr morgens, auf der alten Autobahn war kaum Verkehr. Schneller! Schneller! Pawel trat aufs Gaspedal und hörte bald darauf eine Sirene hinter sich. Was kümmerte ihn das, er behielt sie hinter sich. Er ließ das Polizeiauto nicht vorbei, dessen Fahrer ihn in den Berliner Vorstädten aus den Augen verlor. In Berlin fuhr Pawel bis zur S- und U-Bahnstation Pankow und suchte auf dem Stadtplan, der dort aushing, die Hiddenseestraße.
Kurz vor neun stand er vor einer Backsteinmauer und diskutierte mit einem wachhabenden Polizisten. Er hätte ihn ja am liebsten feinsäuberlich zusammengefaltet, aber er brauchte Zeit, Zeit zur Begutachtung des Tatorts. Der junge Beamte zeigte keinerlei Verständnis. Pawel sah, wie die Kolonne des BKA das Grundstück verließ: Forensiker, Leichenbeschauer, technisches Personal und natürlich Unmengen von Ermittlern und Sonderermittlern. Und deren Assistenten.
»Ich mach doch nur meinen Job«, sagte Pawel.
»Ich doch auch«, sagte der junge Polizist, der ihn merkwürdig ansah. Leicht devot, glaubte Pawel. Er kämpfte mit sich, ehe er sich überzeugt hatte, dass es nötig war. Bitter nötig: »Verstehe mich doch«, flüsterte er und fügte nach einer Weile mit einem bestimmten Blick hinzu: »Süßer.«
Der Beamte sah ihn erstaunt an, schien dann aber zu verstehen und sagte: »Moment mal!«
Er ging ein paar Schritte, sprach in sein Funkgerät und kehrte zu Pawel zurück. Plötzlich war alles ganz leicht: »Wir haben von Ihnen
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