French, Tana
sie unwiderstehlich und
unberührbar zugleich, Matt Dalys Tochter, die Jimmy einfach alles wegnahm,
wonach ihr gerade war. Wahrscheinlich war er betrunken, zumindest bis zu dem
Punkt, als ihm klar wurde, was passiert war. Damals war er noch ein kräftiger
Mann gewesen.
Wir waren
in jener Nacht nicht die Einzigen gewesen, die wach waren. Irgendwann war Kevin
aufgestanden, vielleicht weil er aufs Klo musste, und hatte gemerkt, dass wir
beide weg waren. Damals hatte er sich nichts dabei gedacht: Es kam öfter vor,
dass Dad für ein paar Tage verschwand, und Shay und ich hatten immer mal wieder
nachts irgendwas zu erledigen. Aber letztes Wochenende hatte er begriffen, dass
in jener Nacht irgendwer draußen gewesen war und Rosie getötet hatte, und da
war es ihm wieder eingefallen.
Es kam mir
vor, als hätte ich in irgendeinem Spalt im verborgensten Teil meines Gehirns
jedes Detail der Geschichte von der Sekunde an gewusst, als ich Jackies Stimme
auf dem Anrufbeantworter hörte. Es kam mir vor, als würde eisiges schwarzes
Wasser in meine Lunge dringen.
Ma sagte:
»Er hätte warten sollen, bis ich groß genug war. Tessie war ganz hübsch, aber
als ich sechzehn war, gab's reichlich Burschen, die mich auch ganz hübsch
fanden. Ich weiß, ich war jung, aber ich wurde ja schließlich älter. Wenn er
sie bloß mal kurz aus seinen schönen dummen Augen gelassen und mich angesehen
hätte, wäre das alles nicht passiert.«
Die
greifbare Schwere der Trauer in ihrer Stimme hätte Schiffe versenken können.
Und da wurde mir klar, dass sie meinte, Kevin wäre sinnlos betrunken gewesen,
so wie er das von seinem Daddy gelernt hatte, und wäre deshalb aus dem Fenster
gekippt. Ehe ich mich wieder zusammenreißen und sie korrigieren konnte, fuhr
sich Ma mit den Fingern über den Mund, blickte zu der Uhr auf dem Fensterbrett
und kreischte auf. »Großer Gott, sieh dir das an, es ist nach eins! Ich muss
was essen, sonst wird mir blümerant.« Sie ließ den Christbaumanhänger fallen
und schob ihren Stuhl zurück. »Du isst ein Sandwich.«
Ich sagte:
»Soll ich Dad eins reinbringen?«
Mas
Gesicht wandte sich kurz Richtung Schlafzimmertür. Dann sagte sie: »Lass ihn«,
und fing an, Sachen aus dem Kühlschrank zu nehmen.
Die
Sandwichs bestanden aus weicher Butter und Formschinken auf in Dreiecke
geschnittenen Weißbrotscheiben. Sie versetzten mich schnurstracks zurück in die
Zeit, als meine Füße an demselben Tisch nicht bis zum Boden reichten. Ma machte
noch eine Kanne mörderischen Tee und aß sich methodisch durch ihre Dreiecke.
Die Art, wie sie kaute, verriet, dass sie irgendwann bessere dritte Zähne
bekommen hatte. Als wir Kinder waren, erzählte sie uns dauernd, ihre fehlenden
Zähne wären unsere Schuld: Sie hatte sie verloren, als sie uns bekam, einen
Zahn pro Kind. Als die Tränen kamen, stellte sie ihre Tasse hin, zog ein
blassblaues Taschentuch aus ihrer Strickjacke und wartete, bis sie versiegten.
Dann putzte sie sich die Nase und griff zum nächsten Sandwich.
18
EIN TEIL VON MIR hätte ewig bei meiner Ma sitzen
bleiben können, bei aufgewärmtem Tee und regelmäßigen Sandwichportionen. Ma
war keine schlechte Gesellschaft, wenn sie den Mund hielt, und zum ersten Mal
empfand ich ihre Küche wie einen Schutzraum, zumindest im Vergleich zu dem, was
mich draußen erwartete. Sobald ich durch die Tür da trat, würde ich nur noch
nach handfesten Beweisen suchen müssen. Das war nicht weiter schwierig - ich
rechnete damit, dass ich höchstens vierundzwanzig Stunden brauchen würde. Aber
dann würde der nackte Albtraum beginnen. Sobald ich Beweise hatte, würde ich
mir überlegen müssen, was ich damit machen wollte.
Gegen zwei
Uhr drangen erstmals Geräusche aus dem Schlafzimmer: quietschende Bettfedern,
ein wortloses lautes Räuspern, dieser nicht endenwollende Ganzkörperwürgehusten.
Ich fand, das war mein Signal, mich zu verabschieden, worauf Ma eine Salve
komplizierter Fragen zum Weihnachtsessen abfeuerte (»Falls du mit
Holly kämst, ich sage ja nur falls, würde sie
dann lieber helles oder dunkles Fleisch essen, oder überhaupt keins, weil sie
gesagt hat, von ihrer Mammy kriegt sie nur Bio-Pute ...«) Ich hielt den Kopf
gesenkt und ging einfach weiter. Als ich zur Tür hinaushechtete, rief sie mir
nach: »Schön, dass du da warst, komm bald wieder!« Hinter ihr ertönte von Dad
ein laut geröcheltes: »Josie!«
Ich wusste
sogar genau, wie er herausgefunden haben konnte, wohin Rosie in jener Nacht
wollte.
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