Freudsche Verbrechen. Ein Mira-Valensky-Krimi
übrigen Briefe.
„Liebe Hanni, unser liebes Kind,
Du wirst wohl noch einige Zeit in Amerika ausharren müssen. Die Zustände hier bessern sich nicht so rasch, wie wir zu Anfang hofften. Unter Umständen werden wir uns tatsächlich nicht in Wien, sondern in New York wiedersehen.
Wundere Dich nicht über unseren Absender, wir haben das Haus verlassen müssen und leben jetzt bei einem älteren Ehepaar im zweiten Bezirk, in der Praterstraße. Sie sind ganz reizend, obwohl wir ihnen Platz wegnehmen. Wie das gekommen ist? Das, liebes Kind, wissen wir selbst nicht so genau.
Es gibt ein Gesetz, laut dem alle Menschen jüdischer Herkunft ihr Vermögen angeben müssen. Das haben wir selbstverständlich sofort getan. Es hat keinen Sinn, Widerstand zu leisten. Sonst kann das passieren, was Onkel Hans passiert ist. Er ist aber zum Glück wieder aus dem Gefängnis entlassen worden. Was dort vorgefallen ist, darüber schweigt er.
Vorige Woche kamen zwei Beamte und zwei Männer in Uniform zu uns und erklärten, das Haus sei beschlagnahmt. Dein Vater hat ihnen klargelegt, daß in unserem Haus ausschließlich nichtjüdische Parteien wohnen und daß diese ihre Wohnungen auch nach den neuen Gesetzen nicht verlieren dürfen.
Das haben die Beamten bestätigt. Dann sagten sie, der Widerwille gegen den Umstand, daß es noch immer jüdische Hausbesitzer gäbe, sei direkt aus unserem Haus gekommen. Wir glauben nicht, daß das stimmen kann. Jedenfalls erhielten wir einige Stunden Zeit zum Packen und wurden dann in die Wohnung in der Praterstraße eingewiesen.
Dein Vater wird als Jurist dagegen rechtliche Schritte unternehmen. Das Problem ist bloß, daß sich die Gesetze jetzt jeden Tag zu ändern scheinen. Und auch viele der Beamten sind gänzlich ungebildet. Traurigerweise dürfte überdies ein Rechtsstreit mit Vaters Kanzlei-Kompagnon drohen. Er weigerte sich bisher, uns Einnahmen aus der Kanzlei zu überweisen. Es sei verboten, Juden zu bezahlen, hat er mitteilen lassen. Vater hat das tief getroffen. Wo er es doch war, der ihn seinerzeit in die Kanzlei aufgenommen hat. Vater sagt, daß sein Kompagnon außerdem auch juristisch im Unrecht sei. Es sei auch nach den neuen Gesetzen nicht verboten, Juden zu bezahlen. Das Geld muß jetzt bloß auf ein sogenanntes Sperrkonto gelegt werden. Sobald wir das Geld haben, werden wir entscheiden, ob auch wir das Land verlassen. Zuvor hat es keinen Sinn, sich darüber Gedanken zu machen. Denn es gibt jetzt eine sogenannte Reichsfluchtsteuer und andere Steuern, die zu bezahlen sind, bevor man ausreisen darf. Viele unserer Bekannten haben es schon getan. Hat sich übrigens der Bruder von Familie Glück bei Dir gemeldet?
In der Hoffnung, daß es Dir gutgeht,
küssen und umarmen Dich Deine
Eltern
Wien, im Oktober 1938“
Der letzte Brief, der in dem alten Koffer lag, war an die Adresse von Hannis Eltern in der Praterstraße gerichtet. Die Anschrift war mit einem dicken roten Stift durchgestrichen und daneben stand Hannis New Yorker Adresse. Wer den Brief wohl so völlig kommentarlos an Hanni zurückgeschickt hatte?
„Liebe Eltern,
ich habe für uns eine Wohnung gefunden. Sie ist nur klein, wir werden eben zusammenrücken müssen. Wundert Euch nicht, mit Theodore ist es aus. Ihr habt es mir ja immer prophezeit. Ich habe in einer Rechtsanwaltskanzlei eine Stelle als Stenotypistin gefunden und kann mich glücklich schätzen. Die meisten der Flüchtlinge bekommen höchstens eine Arbeit im Haushalt oder am Bau. Ja, lieber Vater, Deine Tochter wird eben vorerst nicht weiter die Juristerei studieren können, sondern juristische Briefe tippen. Zum Glück ist mein Englisch inzwischen nahezu „perfect“.
Über meinen neuen Chef habe ich Euch auch die nötigen Einreisepapiere schicken lassen. Ich hoffe, sie sind gut angekommen.
Ich bitte Euch inständig, macht Euch unverzüglich auf den Weg! Jeden Tag steht in unseren Zeitungen etwas über neue Katastrophen. Stimmt es, daß jüdische Kinder nicht mehr in die Schule gehen dürfen? Kommt in den Westen, und zwar so schnell es geht!
Eure Euch liebende Tochter
Hanni
New York, August 1939“
Dieser Brief hatte das Ehepaar Rosner nie erreicht. Hatten sie die Einreisepapiere in die USA bekommen?
Ich legte meinen Kopf auf die Reisedecke. Wahrscheinlich hatte die junge Hanni Rosner die Decke mitgenommen, als sie 1938 nach Amerika fuhr. Offenbar aus Liebe zu einem jungen Mann und gegen den Willen ihrer Eltern. Die Decke war weich und roch nach altem Staub.
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