Freudsche Verbrechen. Ein Mira-Valensky-Krimi
alles das, was sich zwischen 1938 und jetzt rund um die Birkengasse 14 abgespielt hatte. Andererseits: Unterschied sich sein Zugang von dem, den die meisten Österreicher zur Vergangenheit hatten? Er schien meine ablehnende Reaktion zu spüren.
„Wissen Sie, wir haben uns aus eigener Kraft hinaufgearbeitet. Ich habe als Kellner begonnen und dann auf der Abendschule eine Prüfung nach der anderen gemacht. Jetzt bin ich Restaurantmanager. Uns ist nie etwas in den Schoß gefallen. Und dann hört man, dass die Großeltern ein Wiener Wohnhaus besessen haben …“
„Wollen Sie nichts über das Leben Ihrer Mutter in Wien wissen? Sie war nicht immer Stenotypistin.“
„Natürlich will ich alles darüber wissen. Aber es war schließlich meine Mutter selbst, die sich entschieden hat, die Vergangenheit ruhen zu lassen.“
„Vielleicht bloß, weil sie sie nicht ertragen hat.“
Er schwieg und sah mich erschrocken an. Am Nebentisch begrüßten sich zwei Frauen mit spitzen Schreien des Entzückens.
„Sie hat immer so … stabil gewirkt. Sie war eine richtige Schönheit, auch noch, als sie über fünfzig war. Die Leute sagen, ich hätte ihre …“
Wäre es Jane in erster Linie um den Besitz an dem Haus in der Birkengasse 14 gegangen, sie hätte mit ihrem Vater darüber geredet. Aber wenn es darum ging, die Vergangenheit zu erkunden, konnte sie bei ihrem Vater, wahrscheinlich auch bei ihrer Mutter, auf wenig Verständnis hoffen.
„War unter den Bekannten Ihrer Mutter ein gewisser Theodore Marvin?“
Er schüttelte den Kopf. „Sie war sehr beliebt. Sie hatte viele Freunde und Bekannte in unserer Straße. Aber einen Theodore Marvin hat es nicht gegeben. Ich habe ein hervorragendes Namengedächtnis, das braucht man in meinem Beruf. Ist das nicht der Name, der auf einigen Briefen stand?“
„Er war der Mann, wegen dem sie kurz vor dem Einmarsch der Hitler-Truppen in Österreich in die USA gekommen ist.“
„Vor dem Anschluss? Dann ist sie also gar nicht geflohen?“
„Sie konnte nur nicht mehr zurück. Und ihre Eltern blieben in Wien.“
Er nickte ernst. „Nein, von einem Theodore Marvin habe ich zuvor nie etwas gehört. Sie haben meiner Frau erzählt, dass diese Beziehung auch nicht lange gedauert hat, richtig? Die Adresse ist gut, Upper Eastside. Ich glaube allerdings nicht, dass das Haus noch steht. Übrigens: Liegt das Wiener Haus in einer guten Gegend?“
„Ja, es liegt sogar in einer sehr guten Gegend.“
„Grund genug für einen Mord. Mein armes Kind. Man muss die Medien …“
„Hören Sie: Es stimmt zwar, dass ich die Freundin der Frau bin, die zur Zeit von der Kriminalpolizei verdächtigt wird, aber ich bin auch Journalistin. Ich versichere Ihnen …“
„Das ist ja großartig! Ich gebe Ihnen gerne ein Interview. Das heißt, vielleicht sollte ich mir vorher einen Anwalt besorgen, damit ich auch die richtigen Sachen sage. Der Tod meines Kindes muss aufgeklärt werden und man hat ja nur eine vage Ahnung davon, wie das mit der Rückgabe von Nazivermögen geht. In Österreich, so hört man, gibt es jede Menge neuer Nazis. Schlimmstenfalls wird man auch die Regierung klagen müssen.“
Ich beließ es dabei, es war mir einfach zu mühsam, graue, teilweise ohnehin nur dunkelgraue Facetten in sein Schwarzweißbild zu zeichnen. „Wir haben unabhängige Gerichte, so wie Sie hier.“ Mir fiel ein, dass erst vor kurzem vier New Yorker Polizisten, die einen unbewaffneten Schwarzen mit mehreren Dutzend Schüssen niedergestreckt hatten, freigesprochen worden waren.
„Man muss in die Zukunft denken, das hat auch meine Mutter immer gesagt.“
„Und trotzdem hat sie den Koffer aufbewahrt.“
Am nächsten Morgen ließ ich mich zur Adresse bringen, an der Theodore Marvin gewohnt hatte. Entgegen der Vermutung von Janes Vater stand das Haus noch. In den unteren zwei Stockwerken war jetzt ein Museum für zentralafrikanisches Kunsthandwerk untergebracht. Die restlichen vier Stockwerke bestanden aus Privatwohnungen. Da ich nicht wusste, in welches Apartment Theodore Marvin gehört hatte, ging ich systematisch vor und begann im sechsten Stock zu suchen. Nur wenige Menschen waren zu Hause. Einige reagierten misstrauisch, die meisten freundlich. Aber helfen konnte mir niemand. In New York sind sechzig Jahre eine unendlich lange Zeit. Am längsten wohnte eine Frau im Haus, die mir in Jeans und einem farbenbeklecksten Hemd öffnete. Sie sei seit den Siebzigerjahren da, aber auch sie habe noch nie etwas von einem
Weitere Kostenlose Bücher