Freuet Euch, Bernhard kommt bald!: 12 unweihnachtliche Weihnachtsgeschichten (German Edition)
herausgekommen. Aber er wartete, er wog ab, die öffentliche Wirkung, das entsetzliche Verfahren gegen das bescheidene Recht, alle vierzehn Tage das Kind zu sehen, vielleicht, falls Barbara mitspielte, jetzt saß sie am länge ren Hebel, nicht er, darauf lief es doch hinaus. Und so verging ein Jahr, und wieder eines, er war auf einmal Minister, und dann hatte er zu lange gewartet, dann war das Kind schon größer geworden, und er war ihr unwiderruflich ein fremder Mensch und schämte sich auch. Er hätte mehr tun können.
Jetzt stand er hier. Hauptsächlich aus Neugier. Oder aus welchem Grund auch immer. Sie war ihm ja auch ein fremder Mensch. Holz erinnerte sich nicht, seit seiner Schulzeit jemals mit einem Mädchen dieses Alters mehr als drei Worte gewechselt zu haben. Wie redeten die überhaupt, schon wie Erwachsene oder noch wie Kinder?
Greta, dachte Holz, ist der einzige Verwandte, den ich habe. Die Eltern tot, Einzelkind, keine Onkel, Tanten, Nichten und Neffen, da ist nur Greta, in diesem Haus, an ihrem Computer. Durch sein Fernglas sah er, dass in ihrem Zimmer ein Poster hing, auf dem ein junger Mann zu sehen war, den er nicht kannte. Es schien eine Filmszene zu sein, also wahrscheinlich ein Schauspieler. Im Erdgeschoss stand ein Baum, noch ungeschmückt.
Es schneite inzwischen. Holz fror, vor allem an den Füßen. Der Schnee war nass, Nässe und Kälte kletterten die Schuhsohlen hoch. Ein bis zwei Zentimeter waren bestimmt schon gefallen, und die Flocken wurden größer. Das konnte ja heiter werden auf dem Rückweg. Spuren würde er außerdem hinterlassen. Während Holz sich innerlich auf den Rückweg vorbereitete – zum Dorfplatz würde er sicher zwanzig Minuten brauchen, wenn nicht eine halbe Stunde –, hörte es auf zu schneien, und ein kalter, kristallharter Regen setzte ein. Holz schüttelte sich. Dann fasste er einen Entschluss. Er setzte Fuß vor Fuß, vorsichtig, wegen der Glätte, und stieg den Hang hinab, Richtung Haus. Er wusste noch nicht, was er sagen würde. Das hing auch davon ab, wer die Tür öffnete.
Barbaras Auto sprang wieder einmal nicht an, sie wollte längst schon zu Hause sein, um sich dort dem schwierigsten Weihnachtsfest ihres Lebens zu stellen. Stattdessen wartete sie auf den Pannendienst. Das Auto brauchte eine neue Batterie, das wusste sie. Aber finanziell war es nicht einfach zurzeit. Der Ausbau der Scheune war teurer gewesen als erwartet, die Praxis lief, na ja, so mittel. Die Gegend hier war dünn besiedelt, und Konkurrenz gab es reichlich. Der Rücksitz des Autos war mit Einkaufstüten bedeckt, die Gans lag im Kofferraum, dazu ein paar Geschenkpakete für Nachbarn, auf den letzten Drücker besorgt. Hier auf dem Land hielt man Kontakt, außerdem waren die Nachbarn potentielle Kunden. Für ein paar kleine Aufmerksamkeiten musste einfach Geld da sein. Der Pannenhelfer kam erst nach mehr als einer Stunde und wollte ihr natürlich eine neue Batterie verkaufen, alles andere hatte keinen Zweck. Sie konnte mit der Kreditkarte bezahlen.
Der letzte Anruf von Holz lag drei oder vier Jahre zurück. Das war auch kurz vor Weihnachten gewesen, am 23., wie an diesem Tag, Holz wollte mit Greta sprechen. Barbara hatte aufgelegt, wie jedes Mal. Sie fühlte sich nicht besonders gut dabei. Inzwischen wäre es möglich gewesen, mit ihm zu sprechen, ganz normal, und ein Arrangement zu treffen. Es gab ganz sicher üblere Typen als Holz – er war ichbezogen, karrierefixiert, kalt, das alles, aber gewissenlos oder bösartig war er nicht. Dass er ihr sofort unterstellt hatte, ihn mit einer Schwangerschaft, die ein Zufallsprodukt war, hereinlegen und zu irgendetwas zwingen zu wollen, hing auch mit seiner Politikerexistenz zusammen. Da wird ständig intrigiert und laviert, da gibt es keine Zufälle. Da belauert jeder den anderen. Darüber hatte Holz gejammert, dann hatte er gelacht und gesagt: »Ich bin selber auch so.« Damals war er noch ein einfacher Abgeordneter.
Das größte Problem bestand darin, dass Greta glaubte, ihr Vater sei tot. Irgendwas musste sie dem Mädchen doch sagen, als es anfing, Fragen zu stellen. Die Wahrheit war zu kompliziert. Gretas Vater ist ein wunderba rer Mann gewesen, er liebte sie sehr, er war so glücklich, als sie geboren wurde. Und dann starb er. Vier Wochen nach der Geburt. Im Laufe der Zeit stellte sich allerdings heraus, dass Lügen noch komplizierter sein können als die komplizierteste Wahrheit. Das fing mit dem Grab an, das Barbara ausgesucht hatte, ein
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