Freuet Euch, Bernhard kommt bald!: 12 unweihnachtliche Weihnachtsgeschichten (German Edition)
Grab in Bonn, zu dem sie mit Greta in jedem Jahr zwei-, dreimal Blumen brachte, immer von der Angst geplagt, dass da auf einmal eine Witwe auftauchte oder sonst ein Verwandter. Natürlich stand über den Toten nichts im Internet, das hatte Barbara gründlich gecheckt. Und als Greta größer wurde und selber dahin wollte, zu diesem Grab, waren sie weggezogen. Greta besaß auch eine eigene Telefonnummer, die nicht im Telefonbuch stand. Für den Fall, dass Holz sie anrufen wollte. Ein paar Fotos des angeblichen Vaters gab es auch. Die Fotos zeigten einen von Barbaras Exfreunden, der inzwischen in Kanada lebte. Trotzdem war das Eis dünn. Früher oder später musste das alles herauskommen. Eine schreckliche, dumme Idee, ein Fehler, eine Idiotie. Barbara schämte sich, und seit sie ihren Fehler erkannt hatte, sah sie Holz in einem milderen Licht. Es war Zeit aufzuräumen.
Heute Abend. Barbara wollte kochen, ein bisschen gute Stimmung verbreiten und dann die Geschichte erzäh len. Eine Geschichte, in der sie nicht gut aussah. Aber das musste sein. Greta war wie sie. Greta würde wütend reagieren, herumschreien, die Wände hochgehen. Und dann würde Barbara die Telefonnummer von Holz auf den Tisch legen. Ruf ihn an. Am besten jetzt gleich. Er wird sich freuen. Alles Weitere findet sich dann.
Die Straßen waren glatt. Eisregen. Barbara fuhr im Schritttempo. Dort, wo der Weg zu ihrem Haus abbog, an der leichten Steigung, drehten die Reifen durch, neue Winterreifen waren auch dringend nötig. Greta stand am Herd und kochte Tee. Neuerdings mochte sie Früchtetee. Sie half beim Ausladen des Autos, widerwillig, wie immer.
»War was Besonderes?«, fragte Barbara.
»Ein Mann war da«, sagte Greta.
»Du hast dem doch hoffentlich nicht aufgemacht«, sagte Barbara. Das war der Nachteil des Hauses, die einsame Lage. Aber Greta wusste ja, was alles passieren kann. Die nächsten Nachbarn, fünf Fußminuten entfernt, nette Leute, die würden im Notfall sofort zu Hilfe kommen.
»Der Mann wollte mit dir sprechen«, sagte Greta. Sie hatte nicht die Tür aufgemacht, sondern das Fenster im Obergeschoss. Der Mann war schon älter und seltsam angezogen, schicker Mantel, Krawatte, darunter wohl ein Anzug, nicht das, was man trägt, wenn man in der Eifel durch den Wald läuft. Aber ganz nett offenbar.
Es tat ihm furchtbar leid, dass Barbara nicht zu Hause war. Er sei ein alter Freund, zufällig in der Gegend. Er lobte Greta, weil sie so vernünftig war, nicht die Tür aufzumachen. Das würde er seiner eigenen Tochter auch empfehlen, in so einem Haus muss man vorsichtig sein. »Weißt du«, rief der Mann, »es regnet doch so schlimm, und ich habe völlig falsche Sachen an, ich wollte eigentlich gar nicht vorbeikommen, das war eine spontane Idee. Ich bin ja selber schuld, wenn ich jetzt nass bin. Aber kannst du mir vielleicht was für den Rückweg runterwerfen? Eine Plastiktüte, die ich über den Kopf halten kann? Oder einen Schirm? Ein Schirm wäre natürlich das Allerbeste.«
»Da habe ich ihm meinen Kinderschirm runtergeworfen«, sagte Greta. »Mit den Bildern von Biene Maja drauf. Den benutze ich sowieso nicht mehr. Oh, was für ein toller Schirm, hat er gerufen, das ist ab sofort mein Lieblingsschirm. Dann hat er doch tatsächlich seine Brieftasche genommen, alle Papiere und Plastikkärtchen rausge nommen und sie zu mir hochgeworfen. Siehst du, hat er gerufen, ich bezahle auch was für den schönen Schirm.«
»Und weiter?«
»Dann ist er gegangen. Hat sich ein paarmal umgedreht und gewunken. In der Brieftasche waren dreihundert Euro drin.«
»Sehr seltsam«, sagte Barbara. »Gut, dass du dem nicht aufgemacht hast. Normal ist das nicht.«
»Aber ich glaube nicht, dass er verrückt ist oder ein Perverser. Der wirkte nicht so. Vielleicht ist er einfach nur reich. Oder in Weihnachtsstimmung. Dreihundert Euro. Die können wir brauchen. Am Auto sind doch tausend Sachen kaputt.«
Dieses Ereignis beschäftige Barbara so stark, dass sie ihre Pläne für den Abend beinahe geändert hätte. Aber sie wusste, dass sie nur nach einer Ausrede suchte, um das Unangenehme, dieses Gespräch, das sie seit Monaten vor sich herschob, ein weiteres Mal verschieben zu können. Nein, diesmal nicht. Sie machte Rührei mit Kräutern, etwas Leichtes, morgen gab es schließlich die Gans. Barbara stand auf. Es war so weit.
»Koch uns noch einen Tee«, sagte sie. »Ich hole schnell Kaminholz. Und dann erzähle ich dir etwas. Etwas sehr Wichtiges.«
Der Weg
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