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Freuet Euch, Bernhard kommt bald!: 12 unweihnachtliche Weihnachtsgeschichten (German Edition)

Freuet Euch, Bernhard kommt bald!: 12 unweihnachtliche Weihnachtsgeschichten (German Edition)

Titel: Freuet Euch, Bernhard kommt bald!: 12 unweihnachtliche Weihnachtsgeschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Martenstein
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Unten hat sich jede Menge Feuerwehr versammelt. Aus drei oder vier Schläuchen halten sie voll auf das Haus drauf. Sie haben ein Sprungtuch aufgespannt. Während wir rausschauen, fällt an uns die alte Dame vorbei, die in der Wohnung über uns wohnt, also im fünften Stock. Sie landet im Sprungtuch, springt noch zwei- oder dreimal hoch, dann kriegen die Feuerwehrmänner sie zu packen. Die Feuerwehrmänner sehen uns und rufen, dass wir springen sollen, am besten zeitnah.
    Brenda sagt, dass sie ohne Kleider auf gar keinen Fall springt. Unten stehen nicht nur die Feuerwehrmänner, sondern auch die meisten unserer Nachbarn. Ich sage: »Brenda, du musst deinen Körper wirklich nicht verstecken, und ich glaube, das weißt du auch.« Brenda sagt, dass sie versuchen will, wenigstens mein Geschenk und ein paar von den Plätzchen aus der Wohnung zu holen. In dem Moment fällt mir ein, dass ich noch gar kein Geschenk für Brenda besorgt habe, das will ich noch machen, bis vierzehn Uhr haben die Geschäfte ja noch auf, mindestens.
    Das klingt extrem romantisch, und es war auch romantisch. Wir sind Hand in Hand gesprungen, beide nackt. Es hatte minus zwei Grad. In der freien Hand hat Brenda mein Geschenk gehalten, ein Reisenecessaire aus echtem Leder, ich hielt Brendas Plätzchendose. Und kaum waren wir unten, ist etwas Wunderbares passiert. In der kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung in zweiten Stock wohnt eine chinesische Familie, die haben immer einen Haufen Feuerwerkskörper gebunkert, und auf einmal sind die alle explodiert. Brenda und ich standen auf der Straße, bekleidet nur mit Decken von der Feuerwehr, umgeben von etwa zweihundert Leuten. Über uns zischten diese chinesischen Raketen in den Himmel und explodierten in allen Regenbogenfarben. Vor uns brannte das Haus nieder, wir küssten uns, und es war uns völlig klar, dass wir uns lieben bis in alle Ewigkeit und genau jetzt das tollste Weihnachtsfest erleben, was es in diesem Jahrhundert gegeben hat. Ich glaube, da spreche ich auch für Brenda.

Das Fest
    Rainers Vater hatte im September seinen siebenundneunzigsten Geburtstag in kleinem Kreis gefeiert. Rainer war beruflich verhindert und schickte eine Flasche alten Cognac, vom Geburtsjahrgang seines Vaters. Deshalb hatte Rainers Frau Gudrun die Idee, die ganze Familie zum Weihnachtsfest einzuladen. Wer weiß, sagte sie, wie lange deine Eltern noch fit genug sind. Das ist vielleicht die letzte Gelegenheit für ein Familientreffen, so richtig mit allen.
    Rainers Vater litt unter zunehmender Vergesslichkeit. Körperlich war er noch erstaunlich gut in Schuss. Meistens wusste er auch, welcher Tag gerade ist und wie seine Kinder heißen. Aber die darüber hinausgehenden Feinheiten vergaß er ständig. Rainers Mutter konnte nach einem leichten Schlaganfall ihr linkes Bein nicht mehr gut bewegen, außerdem lallte sie beim Sprechen ein wenig, wie eine Betrunkene.
    Ja, viel Zeit blieb nicht mehr. Rainer hatte sich trotzdem gesträubt. War das eine letzte Gelegenheit oder eine Bedrohung? Er befürchtete, dass er sich bei diesem Fest fühlen würde wie in einem skandinavischen Film, vielleicht einem Film des Regisseurs Lars von Trier. Solche Feste entgleisten doch meistens. Es sei denn, die Familienmitglieder liebten einander irgendwie, und es gab nichts Unausgesprochenes, das zwischen den Teilnehmern stand und mühsam unter der Decke gehalten werden musste. Aber Familien, in denen alle einander liebten und in denen es keine Tabuthemen gab, existierten seines Wissens nicht. In der Dritten Welt oder in Osteuropa gab es solche Familien vermutlich. Der Existenzkampf, die Armut, so was schweißt die Leute zusammen.
    Wenn alle sich zusammenrissen, konnte es vielleicht klappen.
    In ihrer Familie war immerhin niemand als Kind sexuell missbraucht worden – über ein Familienfest mit diesem Problemhintergrund hatte Rainer auch schon mal einen skandinavischen Film gesehen –, und es gab keine größeren politischen Verwerfungen. Rainers Vater hatte sich in der Nazizeit aus allem herausgehalten. Kein Wunder, er hielt sich ja immer aus allem raus.
    Rainer sah drei mögliche Konfliktlinien. Erstens die Trinkgewohnheiten seiner Schwester Rieke, genannt Rapunzel, wegen ihrer hüftlangen Mähne. Rapunzel trank eigentlich gar nicht so viel, also nicht extrem, aber seit er denken konnte, hatte seine Mutter jedes Glas der Tochter mit sarkastischen oder kritischen Bemerkungen kommentiert. Das mochte Rapunzel überhaupt nicht, da ging sie immer sofort zum

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