Freuet Euch, Bernhard kommt bald!: 12 unweihnachtliche Weihnachtsgeschichten (German Edition)
provozieren«, sagte Rainers Mutter trotzdem. »Und um dich von deinen Problemen abzulenken. Stell dich mal lieber deinen Problemen.«
»Ich trinke ein Glas Wein. Das wird man wohl dürfen«, sagte Rapunzel.
»Vorher hast du schon Whisky getrunken«, sagte Nora.
»Ja, ein Glas«, sagte Rapunzel.
»Nein. Drei Gläser«, sagte Rainers Vater.
»Das stimmt nicht, Papa«, sagte Gudrun. »Es war wirklich nur eines.«
»Schlimmer kann die Überwachung bei euch in der DDR auch nicht gewesen sein«, sagte Rapunzel. Gudrun stammte aus Rostock.
»Was soll das, Rapunzel«, sagte Rainer. »Gudruns Familie war im Widerstand, in der Kirche, deine Bemerkung ist unpassend.«
»Wenn du noch einmal den bescheuerten Spitznamen Rapunzel verwendest«, sagte Rapunzel, »dann gehe ich. Ich heiße Rieke und bin keine bescheuerte Zwölfjährige mehr.«
»Ich bin zwölf«, sagte Sarah.
»Nein, bist du wirklich schon zwölf, Nora?«, fragte Rainers Vater. »So ein großes Mädchen!«
»Ich bin nicht die Nora«, sagte Sarah. »Ich bin die Sarah.«
»Bei so vielen Kindern kann schon mal was durcheinandergehen«, sagte Rainers Mutter.
Die Gans war zerteilt und lag jetzt in mittelgroßen Portionen auf den Tellern. Rapunzel fasste ihr Stück Fleisch mit zwei Gabeln und legte es zurück auf die Platte.
»Das kann jemand anderes nehmen. Ich esse kein Fleisch mehr.«
»Damit kommst du jetzt?«, sagte Rainer. »Du hast immer Fleisch gegessen.«
»Macht doch nichts«, sagte Gudrun. »Magst du vielleicht ein bisschen mehr Rosenkohl?«
»Sie will nur provozieren«, sagte Rainers Mutter. »Warte einfach zehn Minuten, dann isst sie die Gans. Als Kind war sie auch so.«
»Habt ihr keine Ahnung davon, wie diese Tiere gemästet werden? Die werden gefesselt, einer reißt ihnen den Schnabel auf, und dann wird mit einem Trichter Brei in sie hineingefüllt. Sie sehen niemals das Licht. Wenn sie geschlachtet werden, sind ungefähr dreißig Prozent von ihnen nicht mal betäubt. So etwas esst ihr.«
Rainer glaubte zu wissen, dass die Sache mit dem Brei und dem Trichter nur bei Gänsen gemacht wird, aus denen man Stopfleber gewinnt. Ganz sicher war er nicht. Definitiv aber wurden Gänse nicht in Dunkelheit gehalten.
»Es ist eine Biogans, Rieke«, sagte Gudrun. »Da achten wir schon drauf.«
»Bio ist der größte Betrug überhaupt«, sagte Rapunzel. Sie schüttelte ihre Mähne und leerte ihr Glas.
»Musst du unbedingt den anderen den Appetit verderben?«, fragte Rainer.
»Das kommt vom Alkohol«, sagte Rainers Mutter. »Kuck dir ihre Pupillen an. Dann weißt du Bescheid.«
»Eine Freundin von mir hat über Geflügelmästung einen Aufsatz geschrieben«, sagte Rapunzel. »Und dann solltet ihr mal das Buch Tiere essen lesen, oder das Buch von Karen Duve, das ist auch gut.«
»Damit musst du unbedingt jetzt kommen, in genau diesem Augenblick, ja?«, fragte Rainer. »Greift zu. Es wird sonst alles kalt.«
»Wann dürfen wir deine Freundin denn mal kennenlernen?«, fragte Rainers Mutter. »Ich bin sehr froh, Rieke, dass du jemanden gefunden hast. Da spreche ich auch im Namen deines Vaters. Lange genug hat es ja gedauert.«
»Barbara ist nicht meine Freundin, sondern eine Freundin. Freundin im Sinne von Freundin. Nicht im Sinne von sonst was.«
»Ach, Enkelkinder haben wir sowieso genug«, sagte Rainers Vater. »Und dass wir sehr tolerant sind, weißt du hoffentlich.«
»Ich bin asexuell«, sagte Rapunzel. »Wie Lagerfeld.«
»Lagerfeld ist schwul«, sagte Vinzenz.
»Also, guten Appetit, alle miteinander!«, sagte Gudrun und schnitt ein Stück von ihrem Gänserücken ab. Die Brust und die Keulen hatte sie an die anderen verteilt.
»Was heißt asexuell?«, fragte Nora.
»Asexuell heißt, dass man sich dem Sexismus und der Pornographisierung der Gesellschaft verweigert«, sagte Rapunzel.
»Ist so etwas wirklich ein Thema für Kinder?«, fragte Rainer. »Ausgerechnet an Weihnachten?«
»Wenn ihr eure Kinder immer noch nicht aufgeklärt habt, dann tut ihr mir wirklich leid.«
Nora sagte: »Ich weiß, was Pornofisierung ist. Tobias kuckt so was.«
»Es ist doch Weihnachten«, sagte Rainers Vater. »Heiligabend, oder? Seid friedlich.«
Gudrun starrte ihn an. Fassungslos. Rainers Vater hatte sich eine Zigarette angezündet, Marke HB , und schnippte die Asche in den noch leeren Salatteller.
»Papa, du, das wollen wir wirklich nicht. Ehrlich. Schon wegen der Kinder.«
»Dein Schwiegervater vergisst manchmal etwas«, sagte Rainers Mutter. »Er
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