Freuet Euch, Bernhard kommt bald!: 12 unweihnachtliche Weihnachtsgeschichten (German Edition)
Gegenangriff über. Außerdem war Rapunzel ledig und kinderlos geblieben, angeblich, ohne lesbisch zu sein. Rainers Mutter aber war nicht von der Ansicht abzubringen, dass ihre Tochter in Wirklichkeit eben doch lesbisch war und ihr diese Tatsache verschwieg, was Rainers Mutter für extrem kränkend und kleinkariert hielt. Warum konnte Rieke nicht offen sein zu ihrer Mutter? So eine sexuelle Abweichung war doch nun wirklich kein Problem mehr heutzutage, sagte Rainers Mutter oft. Rieke solle sich mal ein Beispiel an Wolfgang Joop nehmen oder an Anne Will. Die seien in dieser Hinsicht alle viel lockerer als Rieke. Und würden deshalb auch weniger trinken. Die brauchen das eben nicht.
Das zweite Problem waren Rainers und Gudruns Kinder Tobias, Vinzenz, Sarah und Nora. Das waren zu viele Kinder. Rainers Eltern vertraten die Meinung, dass Gudrun, ein unverbesserliches Muttertier, diese unüberschaubare Kindermasse ihrem Mann gegen dessen Willen irgendwie aufgeschwatzt oder untergeschoben hatte. Wegen der Kinder war in Rainers Haushalt natürlich immer das Geld knapp – Geldmangel in einem Professorenhaushalt! Und Rainer, der sowieso zu viel arbeitete, musste, nur um seine Kinder satt zu bekommen, nebenbei Vorträge an der Volkshochschule halten. Sind zwei Kinder denn nicht genug? Nun, wo sie da sind, liebt man die Enkel natürlich trotzdem, aber musste das sein?
Gudrun steckte das alles aber erstaunlich gut weg. Sie war ein Familienmensch, voller Güte und Verständnis, womöglich hing es auch mit ihrer katholischen Erziehung zusammen.
Das dritte und größte Problem bestand darin, dass Rainer seine Eltern nicht sonderlich mochte. Warum auch immer.
Es lief dann erst mal erstaunlich gut. Die Eltern waren bester Laune, trotz der anstrengenden Zugfahrt. Die Kinder schmückten den Baum, bis auf Tobias, den Ältesten, der in seinem Zimmer saß und mit seinem Computer spielte. Das machte er in letzter Zeit eigentlich immer.
Rainers Vater fand bewundernde Worte für Gudruns Weihnachtsdekoration. Rapunzel trug eine schwarze Federboa und dazu einen lila Lidschatten, sie sah aus wie einem Horrorfilm entsprungen. Aber alle hielten sich mit Bemerkungen zurück. Rainers Mutter humpelte in die Küche und half Gudrun beim Kochen. Rainer hielt die Kinder bei Laune. Sie gingen spazieren, Rainers Mutter blieb zu Hause und deckte den Tisch, nein, das machte ihr nichts aus. Vor der Bescherung riefen sie Gudruns Eltern an, die auf Mallorca lebten, und Gudruns Bruder, der nach Rainers Ansicht Drogendealer oder Geldwäscher war, jedenfalls lebte er in der Karibik, machte dort Geschäfte und hatte viel Geld, über dessen Herkunft er nicht gerne sprach. Aber er war ein netter Typ, fand Rainer.
Nach der Bescherung schenkte sich Rapunzel einen Whisky ein, während ihre Mutter in der Küche die Gans aus dem Ofen holte. Das Geschenk ihrer Mutter war ein Bildband mit Foto-Porträts großer Frauen gewesen, Golda Meir, Susan Sontag, Evita Peron, na ja. Das ging gerade noch so, es war höchstens eine indirekte Anspielung. Immerhin interessierte sich Rapunzel nachweislich für Fotografie.
Tobias war nach der Bescherung sofort wieder in sein Zimmer gegangen.
»Dass ihr dieses Verhalten zulasst«, sagte Rainers Mutter. »Wenigstens an Weihnachten kann der Junge doch mal bei seiner Familie sein.«
»Das mit den Computern ist eine Sucht«, sagte Rainers Vater. »Genau wie Alkoholismus.«
»Oder wie Rauchen, Opa«, sagte Vinzenz. Rainers Vater rauchte, als Einziger. Rainer und Gudrun hatten vor zwei Jahren aufgehört.
»Rauchen ist gut fürs Gehirn«, sagte Rainers Vater.
»Computer auch«, sagte Vinzenz. »Macht aber keinen Krebs.«
»Wo ist eigentlich Tobias?«, fragte Rainers Vater.
»Du musst mehr rauchen, Opa«, sagte Vinzenz. »Dann geht deine Vergesslichkeit vielleicht wieder weg.«
»Ich kenne keinen einzigen Hundertjährigen, der nicht raucht«, sagte Rainers Mutter. »Jopi Heesters hat auch geraucht. Ab achtzig wirkt Rauchen lebensverlängernd.«
»Jetzt lasst mal den Opa in Ruhe«, sagte Gudrun. »Der Tobias kommt bestimmt gleich wieder.«
»Wenn man vier Kinder hat«, sagte Rainers Mutter, »dann ist halt immer ein Problemfall dabei.«
Rainers Mutter zerteilte die Gans. Ihre Hände waren noch okay. Rainer konnte so etwas nicht. Rapunzel schenkte sich ein Glas Rotwein ein. Rainer bat auch um Wein, obwohl er keine Lust auf Wein hatte. Er wollte ein bisschen den Druck wegnehmen von Rapunzel.
»Du trinkst nur, um uns zu
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