Freunde müssen töten - Thriller (German Edition)
hinter abgewetzten Springerstiefeln, ausrangierten Reisetaschen und zusammengeknüllten und schon seit Längerem nicht mehr benutzten Lauf-Shirts. Die Schachtel war an den Ecken abgestoßen und der eingerissene Deckel mit einem Klebeband notdürftig fixiert. Die Schachtel enthielt alles, was aus Tony Brauns früherem Leben übrig geblieben war und was er in seine jetzige Existenz herübergerettet hatte. Die Schachtel enthielt Briefe, Kinderzeichnungen, Scheidungspapiere, Gerichtsurteile und jede Menge Fotos von Braun und seinem Sohn. Während er die Bilder durchsah und an die dazugehörigen Situationen dachte, fiel ihm auf, dass die Fotos von ihm und Jimmy abrupt aufhörten, als Jimmy elf Jahre alt war. Damals hatte sich Brauns Leben grundlegend geändert, plötzlich hatte er keine Familie mehr, musste sich eine neue suchen und diese Familie wurde die Polizei.
Und auch ein anderer Abschnitt meines Lebens ist unwiderruflich vorbei, dachte er, als er ein zerknicktes Foto näher betrachtete. Es zeigte ihn mit einem großen, durchtrainierten Mann mit beinahe kahl rasiertem Schädel, um dessen Hals weiße iPod-Kopfhörer baumelten. Beide waren sie verschwitzt und auf ihren Lauf-Shirts klebten die Startnummern eines Marathons. Braun dachte an den Namen des Mannes, gleichzeitig an die hohe, abweisende Mauer des Hochsicherheitsgefängnisses und daran, dass er endlich eine Entscheidung treffen musste.
„Scheiße!“ Die Erinnerung packte ihn wie eine große schwarze Faust und drückte ihm die Brust zusammen. Er widerstand dem Verlangen, das Foto in lauter kleine Fetzen zu zerreißen, sprang stattdessen auf und gab den verdreckten Laufschuhen, die in dem Wandschrank lagen, einen wütenden Fußtritt und beförderte sie nach hinten zu den zerknüllten Lauf-Shirts. Nach allem, was damals vorgefallen war, hatte Braun aufgehört zu laufen.
Außer seinen Kollegen bei der Mordkommission hatte Braun überhaupt keine sozialen Kontakte, das wurde ihm jetzt schmerzlich bewusst. Er hatte zwar noch eine Mutter, die in einer Schrebergartensiedlung hauste, doch mit ihr hatte er schon jahrelang keinen Kontakt mehr. Er wusste, dass er sich eines Tages mit ihr aussprechen sollte, denn es gab zu viele ungeklärte Fragen zwischen ihnen. Manchmal beneidete Braun auch seinen Bruder, der wie seine Frau als Wissenschaftler tätig war und das Verhältnis zu ihrer Mutter ganz pragmatisch sah.
Mit der Schachtel unter dem Arm ging er ins Wohnzimmer mit den alphabetisch geordneten Schallplatten, die fast alle Wände zupflasterten. Er machte kein Licht, sondern ließ sich in der schattenhaften Dunkelheit einfach auf das Sofa fallen. Die weißen Lichtkegel der Scheinwerfer, die vom Zubringer zur nahe gelegenen Stadtautobahn in sein Wohnzimmer leuchteten, vollführten ein gespenstisches Ballett auf den Schallplatten-Regalen, huschten vor und zurück, so als würden sie geheime Zeichen aussenden, Zeichen, die Braun durch eine geheime Tür in ein neues Leben führen könnten.
„Jimmy ist mein neues Leben“, murmelte er und wuchtete sich aus dem Sofa, machte sich auf den Weg zum Kühlschrank, der groß und metallisch glänzend das einzige Schmuckstück seiner Wohnung war. Mit leisem Zischen öffneten sich die Doppeltüren und Braun fischte sich eine Bierdose aus dem Getränkefach, trank sie in einem Zug leer, wollte gerade die Dose mit dem Stiefel in eine Ecke zu den anderen kicken, als ihm einfiel, dass Jimmy ab jetzt bei ihm wohnen würde. „Auf mein neues Leben!“ Er drückte die Dose zusammen und steckte sie in einen schwarzen Plastiksack.
Das Zimmer, in dem Jimmy wohnen würde, sah aus wie eine Müllhalde. Braun hatte den Raum als Lager für ausrangierte Möbel, vergilbte Akten, kaputte CDs, zerfledderte Bücher zweckentfremdet und dementsprechend ratlos lehnte er jetzt in der Tür und starrte auf das Chaos. Das wütende Gekläff eines Hundes war durch das gekippte Fenster zu hören, der fadenscheinige Vorhang bewegte sich leicht in einem dünnen Luftzug und wirbelte feine Staubwolken auf. Am liebsten hätte Braun die Flucht ergriffen, die Tür hinter sich zugeschlagen, sich auf das Sofa gesetzt, Bierdose in der Hand, Musik aus den Boxen, Lichtspiele an den Regalen, aber so lief das diesmal nicht, denn Braun hatte jetzt Verantwortung. Dazu gehörte auch, dass er seinem Sohn ein wenigstens halbwegs ordentliches Zuhause bieten musste.
Als er sich daran machte, das verdreckte Zimmer zu putzen, fiel ihm auf, dass er im Grunde nichts über seinen
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