Frevel im Beinhaus
sich zu beruhigen, aber auch, um abzuwarten, ob doch noch jemand zurückkehren würde, verharrte sie sehr lange hinter dem Vorsprung des Durchgangs. Die Helligkeit der Fackel nahm langsam ab. In Kürze würde sie ganz verlöschen. Nachdem Adelina dies erkannt hatte, war sie sicher, dass die Männer nicht wieder zurückkehren würden. So rasch sie konnte, holte sie ihre eigene Fackel, die ebenfalls schon weit heruntergebrannt war, und durchquerte dann entschlossen dieLagerstätte. Auf der gegenüberliegenden Seite führte ein schmaler Durchgang weiter. Adelina hoffte, bald einen Ausgang zu finden.
Ihre Hoffnung wurde schneller belohnt, als sie vermutet hätte. Schon nach weniger als dreißig Schritten gelangte sie an eine schmale Steintreppe. Sie führte zu einer Falltür hinauf, die der in ihrem Haus sehr ähnelte. Adelina lauschte kurz, dann versuchte sie die Falltür anzuheben, und atmete erleichtert auf, da sie sich ganz leicht bewegen ließ. Erst öffnete sie die Tür nur einen winzigen Spalt weit und lauschte erneut. Ein schabendes Geräusch ließ sie erschrocken zusammenfahren, dann vernahm sie ein lautes Schnauben und sah sich im nächsten Moment der riesigen Nase eines Tieres gegenüber. Entsetzt ließ sie die Klappe wieder zufallen und rang nach Atem, dann musste sie plötzlich über sich selbst lachen. Erneut hob sie die Falltür an, diesmal deutlich weiter, und blickte in die neugierigen Augen eines Pferdes. Im gleichen Moment erkannte sie, dass rings um die Falltür Stroh verstreut lag. Deshalb schloss sie die Tür noch einmal und brachte ihre Fackel an den Fuß der Treppe, wo sie gefahrlos ausgehen mochte. Dann kletterte sie etwas umständlich hinauf in den Stall. Das Pferd beschnupperte sie aufmerksam, schien jedoch keine Einwände gegen den Eindringling zu haben. Vermutlich war es daran gewöhnt, dass hier Leute ein und aus gingen. Adelina verschloss die Falltür wieder, schob mit den Füßen etwas Stroh darüber und machte sich auf die Suche nach dem Ausgang.
***
Der Stall gehörte zu einem Wohngebäude, das sich in unmittelbarer Nähe zu der erst kürzlich erbauten jüdischen Synagoge befand. Seitlich hinter diesem Gotteshaus erhobsich der alte Turm, den die jüdischen Baumeister einst über der Mikwe erbaut hatten. Adelina rieb sich über die Arme, weniger, weil ihr kalt war, sondern weil sie vor Freude, einen Ausweg aus der Unterwelt gefunden zu haben, eine Gänsehaut bekommen hatte. Sie atmete tief die frische Nachtluft ein und huschte im Schatten des Wohnhauses hinüber zu dem mannshohen Tor, das sie noch von der Judengasse trennte. Sie schob den schweren Holzbalken zurück und schlüpfte hinaus. Da der Mond noch immer sein Licht auf die Stadt warf, war es nicht schwer, den Weg zu erkennen. Adelina ging mit entschlossenen Schritten los. Ein Blick zum Himmel sagte ihr, dass es bis Sonnenaufgang noch mindestens zwei Stunden waren – genug Zeit, bis zur Ulrepforte zu gelangen und sich dort umzusehen.
Der Weg erschien Adelina weniger weit als sonst, vielleicht, weil sie so aufgeregt war, dass sie kaum merkte, wie schnell sie voranschritt. Nur einmal versteckte sie sich in einem Hauseingang vor den Nachtwächtern, und ein andermal wich sie zwei auffällig gekleideten Frauen aus, die den roten Kopftüchern nach wohl Hübschlerinnen auf dem Heimweg von einem Freier waren.
Als sie sich dem von zwei halbrunden Türmen flankierten Stadttor näherte, wurde Adelina bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, wo genau sich die Gewölbe befanden, in denen man den toten Säugling gefunden hatte. Zudem musste sie sich sehr in Acht nehmen, nicht von einem der beiden Tortürme, die zur Stadtseite hin offen waren, durch einen der Wachmänner entdeckt zu werden. Die Ulrepforte lag in einem kaum besiedelten Gebiet der Stadt. Lediglich die Töpfer hatten hier ihre Werkstätten und Wohnhäuser, wegen der Brandgefahr, die von ihren Brennöfen ausging. Ansonsten wurde das Gebiet von Bauern bewirtschaftet. Auch weitläufige Gärten und Obstgärten gab es hier. Adelina hielt sich im Schatten einiger Apfelbäume und blicktezur Wachstube hinauf, hinter deren Fenstern ein Licht brannte. Dort oben hatte Neklas seinen Wachdienst verrichtet, während irgendjemand das tote Kindlein zusammen mit den Schuhen hier in der Nähe versteckte. Plötzlich hörte sie vom Turm her laute Rufe. Sie konnte nicht viel erkennen, aber den Geräuschen nach schien gerade die Wachablösung stattzufinden. Abschätzend blickte sie zum Himmel. Der Mond
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