Frevel im Beinhaus
Häuser? Sie drückte versuchsweise gegen die Tür, doch sie ließ sich kaum bewegen. Durch den winzigen Spalt wehte jedoch ein kühler Luftzug, also befand sie sich wahrscheinlich irgendwo im Freien.
Adelina drückte noch einmal mit aller Kraft gegen die Tür und schaffte es, sie fast bis zur Hälfte hochzustemmen. Im Licht der beginnenden Morgendämmerung erkannte sie, dass sie sich offenbar am Rand eines Obstgartens befand. Ein Brombeerstrauch hatte die Falltür mit seinen dichten stacheligen Ranken überwuchert. Beinahe war sie versucht, hinauszuklettern und den Heimweg anzutreten, doch dann machte sie sich bewusst, dass ihr Ausflug auf diese Weise vollkommen unnütz gewesen wäre. Andererseits hatte sie ja keine Ahnung, wonach sie eigentlich suchte. Die Dämonenbeschwörer konnten einfach überall ihr Versteckeingerichtet haben. Vielleicht sogar außerhalb der Stadtmauern. Was sie hier tat, war die berühmte Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
Verzagt schloss Adelina die Klappe wieder und ließ sich auf die Stufen der schmalen Treppe sinken. Sie kam sich mit einem Mal dumm und töricht vor. Wer auch immer diese Beschwörungen durchführte, ob es der Erzbischof mit seinen Männern war oder jemand anderer, würde doch bestimmt nicht ein Versteck wählen, das so nah an jenem Gelass lag, in dem er als falsche Fährte das tote Kindchen hinterlassen hatte. Warum war sie nicht früher darauf gekommen? Am besten war es bestimmt, so rasch wie nur möglich heimzulaufen und zu versuchen, ungesehen in ihren Hof zu gelangen.
Wieder ließ Adelina ihre Fackel zurück, öffnete die Falltür, so weit es trotz des Gestrüpps möglich war, und kletterte umständlich, um sich ihr Kleid nicht zu ruinieren, hinaus.
***
Stöhnend rieb sich Adelina über ihre Arme, die trotz des Kleiderstoffs von den Stacheln der Brombeere zerkratzt worden waren. Der Saum ihres Rocks war an zwei Stellen eingerissen. Rasch entfernte sie sich von der Falltür und blickte sich um. Sie stand in der Nähe des Stadttors in einem Gebüsch, das offenbar zu einem ehemaligen Töpferhaus gehörte. Es schien schon vor längerer Zeit verlassen worden zu sein, denn das Unkraut hatte bereits die Oberhand gewonnen. Als Adelina das Häuschen umrundete, begriff sie auch den Grund dafür: An der Rückseite klaffte ein riesiges rußgeschwärztes Loch in der Wand. Offenbar hatte es hier einen Brand gegeben, der die Bewohner gezwungen hatte, ihre Wohnstatt zu verlassen.
Adelina sah sich um, dann machte sie sich auf den Rückwegzum Alter Markt und versuchte sich innerlich schon gegen den Ärger zu wappnen, der ihr möglicherweise bevorstand. Sie hielt sich in Richtung der Stiftskirche St. Severin und hoffte, noch vor Öffnung des Severinstores zurück beim Alter Markt oder wenigstens beim Heumarkt angekommen zu sein, damit sie den Strömen von Kaufleuten und Bauern entging, die sich immer schon sehr früh auf den Weg zu den Marktplätzen machten. Auch das Severinstor, das südlichste Stadttor, durch das man gewöhnlich die Stadt verließ, wenn man nach Bonn wollte, grenzte an Gärten und Felder. Trotzdem war die Bebauung etwas dichter als an der Ulrepforte. Die ersten Ausläufer der Stadt begannen hier bereits.
Sie bog auf die Severinstraße ein und blickte sich beim Gehen unbehaglich um. Zu dieser frühen Stunde wirkte die Gegend etwas unheimlich, vor allem, wenn man bedachte, dass die römischen Bewohner Kölns einst links und rechts der Straße große Gräberfelder angelegt hatten, heidnische Gräber. Adelina schauderte. Man hatte viele alte Grabmale gefunden, als man das Land zur Bewirtschaftung durch die Bauern freigegeben und urbar gemacht hatte. Einige große Grabmonumente ragten noch heute wie einsame Mahnmale aus dem Boden.
Adelina blieb stehen, als sie seitlich hinter einer Baumgruppe, höchstens zwanzig Schritt von der Straße entfernt, ein Pferd erblickte, das jemand dort angebunden hatte. Verwundert trat sie näher. Diesen großen Rappen kannte sie doch! Er trug Sattel und Zaumzeug aus edlem Leder. Suchend blickte Adelina sich um. Wo war der Besitzer des Tieres? War er vielleicht nur abgestiegen, um sich irgendwo im Gebüsch zu erleichtern?
Sie trat an das Tier heran und betrachtete es genauer. Sie wusste, dass sie es schon einmal gesehen hatte, kam aber nicht darauf, wo das gewesen sein könnte. So war ihre Neugiergeweckt, und sie umrundete das Wäldchen einmal und entfernte sich dabei ein gutes Stück von der Straße. Sie kam an einem jener uralten
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