Frevel: Roman (German Edition)
versetzen, wenn er wüsste, dass ich als Einziger hier am Tisch das tote Mädchen mit eigenen Augen gesehen habe, aber natürlich weiß niemand, dass ich in jener Nacht dort war, genauso wenig wie irgendjemand die Wahrheit bezüglich meiner Arbeit für Walsingham kennt. Castelnau glaubt, meine Bekanntschaft mit Philip Sidney würde sich zu seinem Vorteil auswirken; gelegentlich lasse ich ihm ein paar falsche Informationen vom englischen Hof zukommen, die ihn in dieser Illusion bestärken. Armer, vertrauensseliger Castelnau, es erfreut mich keineswegs, ihn zu täuschen, aber ich muss zuerst an mich denken, und ich glaube, ich habe in England bessere Zukunftsaussichten als in Frankreich. Allerdings bereitet es mir keine Gewissensbisse, Menschen wie Henry Howard in die Irre zu führen, einen gefährlichen Mann, vor dem mich Walsingham eindringlich gewarnt hat. Seit sein älterer Bruder, der Herzog von Norfolk, wegen Verrat hingerichtet wurde, ist Howard mit dreiundvierzig Jahren das Oberhaupt der mächtigsten katholischen Familie in England. Man sollte ihn nicht unterschätzen; im Gegensatz zu vielen anderen englischen Adeligen hat er einen messerscharfen Verstand und hat an der Universität von Cambridge sogar Rhetorik gelehrt. Sidney sagt, die Königin hätte ihn in ihren Kronrat berufen, weil sie weiß, dass es klüger ist, seine Feinde in seiner Nähe zu halten, und weil sie die Puritaner unter ihren Ministern bei der Stange halten will.
»Mylord, Ihr irrt Euch – ich bin nur ein einfacher Schriftsteller«, erwidere ich, dabei hebe ich bescheiden die Hände. »So wie Eure Lordschaft auch«, füge ich dann hinzu, wohl wissend, dass ihn der Vergleich ärgern wird. Es wirkt, er funkelt mich an, als hätte ich seine legitime Geburt in Frage gestellt.
»Ach ja – was ist denn mit Eurem Buch, Howard?«, fragt Castelnau, sichtlich dankbar für die Ablenkung.
Howard neigt sich nach vorne und hebt einen Finger anklagend zur Decke.
»Die Art dieses Mordes – das ist das Hauptthema meiner Abhandlung. Wenn die Königin sich so offenkundig auf Wahrsagerei und Geisterbeschwörer wie John Dee verlässt, sind ihre Untertanen versucht, es ihr gleichzutun. Da sie sie noch dazu ermutigt hat, dem Papst den ihm gebührenden Gehorsam aufzukündigen, ist es nicht weiter verwunderlich, dass diese sich den Weissagungen und dem Geschwätz jedes alten Tattergreises über Sterne und Planeten zuwenden. Und überall, wo Chaos und Verwirrung herrschen, reibt sich der Teufel hämisch die Hände. Aber die Leute schlagen ja sämtliche Warnungen in den Wind.«
»Wenn ich Euch richtig verstehe, Mylord, seid Ihr der Meinung, dass dieser Mord geschah, weil die Leute Euer Buch nicht gründlich genug gelesen haben?«, frage ich mit unschuldsvoller Miene. Castelnau wirft mir einen warnenden Blick zu.
»Ich bin der Meinung, Bruno … «, Howard zischt meinen Namen, als würde er dabei die Zähne zusammenbeißen, »… dass diese Dinge alle zusammenhängen. Eine Herrscherin, die sich von der Kirche Gottes abwendet und alle spirituelle Autorität für sich selbst beansprucht, aber das Haus nicht verlässt, ohne zuvor die Sterne befragt zu haben? Prophezeiungen bezüglich des Endes der Welt und der Ankunft des Antichris ten? Die alte Ordnung ist auf den Kopf gestellt worden, und jetzt erdreisten sich Irrsinnige, Unschuldige im Namen des Teufels abzuschlachten. Ich bin sicher, dieser Mord war nicht die letzte Tat dieser Art.«
Bei diesen Worten hebt Douglas so ruckartig den Kopf, als verspräche das Gespräch endlich doch interessanter zu werden als die Überreste seines Huhns.
»Aber wenn man den Berichten Glauben schenken darf«, gebe ich vorsichtig zu bedenken, »dann scheint dieser Mörder eher im Namen der katholischen Kirche gehandelt zu haben.«
»Diejenigen, die sich der Herrschaft der Heiligen Mutter Kirche entzogen haben, werden immer die Ersten sein, die sie schmähen«, kontert Howard so rasch, als würden wir ein Fechtduell austragen, dabei krümmen sich seine Lippen zu einem Lächeln. »Was Ihr eigentlich wissen müsstet, Master Bruno.«
» Doktor Bruno, wenn ich bitten darf«, murmele ich. Normalerweise bestehe ich nicht darauf, aber ich weiß zufällig von Walsingham, dass Henry Howard zwar einen Familientitel geerbt, aber ansonsten nur den Mastergrad erreicht hat. In Universitätskreisen zählen solche Unterschiede. Und sein Gesichtsausdruck verrät mir, dass ich einen wunden Punkt getroffen habe.
» Alors … « Castelnau
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