Frevel: Roman (German Edition)
können, obwohl er das Bild mit Sicherheit in Form einer Metapher präsentiert hat – als Zeichen dafür, dass die himmlischen Wächter ihre schützende Hand über Elisabeth halten. Und jetzt, nur einen Tag später, hat sich diese Vision auf furchtbare Weise fast bis in die letzte Einzelheit erfüllt. Sagte Dee nicht, Kelley habe beschrieben, wie die rothaarige Frau von einem gewaltigen Strom fortgerissen wird? Und wurde Abigails Leiche dann nicht im Wasser treibend gefunden? Das musste Leicester gemeint haben, als er von mehr als einem Zufall sprach. Jetzt begreife ich, dass er Recht hatte: Ned Kelley wusste Bescheid. Es kann keine andere Erklärung geben – er hat den Mord an Abigail Morley beschrieben, bevor er verübt wurde, und es war kein Engel oder Dämon, von dem er sein Wissen bezogen hat. Kein Wunder, dass diese hinterlistige Kreatur Kelley untergetaucht ist.
»Bruno?« Walsingham beugt sich noch näher zu mir. In seinen Augen leuchtet eine Warnung auf.
»Er hat etwas in dieser Art erwähnt«, murmele ich, da ich nicht den Anschein erwecken möchte, als würde ich noch mehr vor ihm geheim halten. »Er besitzt einen Kristall, in dem er unter gewissen Umständen Bilder zu sehen glaubt.«
»Sprecht offen, Bruno – Ihr meint, er hält Séancen ab, um mit den Geistern in Verbindung zu treten. Schon gut, Ihr verratet ihn nicht. Wir verfolgen beide dasselbe Ziel – wir wollen Dee schützen. Aber er hat sich in große Schwierigkeiten gebracht.« Seufzend vergewissert er sich erneut, dass wir nicht belauscht werden. »Gestern Abend berichtete Doktor Dee der Königin von seiner jüngsten Vision – von einer rothaarigen Frau mit dem Zeichen des Saturns auf ihrer nackten Brust, der eine Klinge mitten ins Herz gestoßen und die dann von einem großen Fluss davongetragen wurde. Er sagte, die Vision handele von den Wünschen ihrer Feinde, die ihm ihre Schutzengel geschickt hätten, um sie durch ihn zu warnen. Oder ähnlichen Unsinn, was weiß ich. Heute Morgen hielt es Ihre Majestät für angebracht, den Kronrat in diese Vision einzuweihen. Sie hat es aus Bosheit getan, denke ich, um Henry Howard zu ärgern. Sie hat es sich ja immer schon zur Aufgabe gemacht, öffentlich über alle Drohungen gegen ihre Person zu spotten, ob sie nun auf Informationen aus sicherer Quelle oder auf Fantasien wie denen von Dee basieren. Nein, sie muss unbedingt bei jeder Gelegenheit ihre Furchtlosigkeit unter Beweis stellen. Sie konnte ja nicht ahnen … nun, Ihr seht, wo das Problem liegt, Bruno.«
Ich nicke; ich sehe es nur allzu klar. John Dee hat unwissentlich den Mord an Abigail Morley vorhergesagt und die engsten Berater der Königin wissen davon. Die naheliegende Schlussfolgerung wird lauten, dass nur jemand, der in das Verbrechen verwickelt ist, über solche Vorkenntnisse verfügen kann. Warum konnte Dee nicht wenigstens ein Mal meinen Rat beherzigen und den Mund halten?
»Er hatte mir auch davon erzählt«, flüstere ich. »Euch hat er allerdings nicht die ganze Wahrheit gesagt. Die Vision stammte nicht von ihm, obwohl er der Königin sicherlich weismachen wollte, die Geister hätten sie ihm und keinem anderen geschickt. Nein, er beherbergt einen … Wahrsager in seinem Haus.«
So kurz wie möglich berichte ich ihm von Ned Kelley, seinem abgeschnittenen Ohr, seinen angeblichen Visionen in dem Kristall, von der Art, wie er sich in Dees Haus eingenistet hat und seinem plötzlichen Verschwinden, nachdem er etwas prophezeit hatte, was dem Tod von Abigail Morley sehr nahekam. Nachdem ich geendet habe, presst Walsingham die Lippen zusammen und schüttelt den Kopf.
»Armer Dee«, sagt er endlich mit einem Anflug von Mitleid. »Er forscht mit solch leidenschaftlichem Eifer nach dem Unbekannten, dass er das übersieht, was sich direkt vor seiner Nase abspielt. Er hat schon immer den Fehler gemacht, den falschen Leuten zu vertrauen.«
»Wenn die Sache mit dem Wasser nicht wäre, würde ich sagen, Kelley hatte seine sogenannten Prophezeiungen irgendeiner billigen Flugschrift entnommen, die für einen Penny an jeder Straßenecke zu haben sind«, versetze ich. »Jedoch hat er Dee erzählt, er hätte gesehen, wie die Frau von einem Wasserstrom mitgerissen würde, und dann wurde Abigails Leichnam in dem Kanal bei dem Dock gefunden. Es hat den Mörder gewiss wertvolle Zeit gekostet, sie an dem Eisenring festzubinden, also muss er etwas Bestimmtes damit beabsichtigt haben – ein symbolisches Zeichen zu hinterlassen oder etwas in der
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