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Frevelopfer

Frevelopfer

Titel: Frevelopfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indriðason
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sich gut, und irgendwie meine ich, mich zu erinnern, dass sie zusammen ausgegangen sind oder so was.«
    Die junge Frau betrat Runólfurs Mietwohnung im Þingholt-Viertel und sah sich ängstlich um, als erwarte sie das Schlimmste.
    Elínborg folgte ihr auf dem Fuße. Auch die Eltern waren mitgekommen, ebenso der Psychiater, bei dem sie in Behandlung war. Elínborg hatte Unnur und den Eltern arg zusetzen müssen, um sie dazu zu bewegen, diesen Besuch zu machen. Erst ganz zum Schluss hatte sich die Mutter auf Elínborgs Seite gestellt und ihrer Tochter gut zugeredet, der Kriminalpolizei behilflich zu sein.
    In der Wohnung war seit dem Leichenfund nichts angerührt worden. Die Spuren des Mordes waren unübersehbar, und die junge Frau zögerte, als sie das eingetrocknete schwarze Blut auf dem Fußboden sah.
    »Ich mag nicht da hinein«, sagte sie und sah Elínborg flehend an.
    »Das weiß ich, Unnur«, sagte Elínborg beschwichtigend. »Aber es dauert nur einen Augenblick, und dann kannst du wieder nach Hause gehen.«
    Unnur ging sehr vorsichtig durch die Diele ins Wohnzimmer und vermied es, auf das Blut zu sehen. Sie betrachtete die Plakate mit den Superhelden, das Sofa, den Wohnzimmertisch und den Fernseher und sah zur Decke. Es war spätabends.
    »Ich glaube nicht, dass ich jemals hier gewesen bin«, flüsterte sie leise, wie zu sich selbst. Dann ging sie genauso vorsichtig in die Küche. Elínborg folgte ihr wie ein Schatten. Sie hatten sich bereits Runólfurs Auto angesehen, das die Polizei in Verwahrung hatte, aber Unnur konnte es nicht identifizieren.
    Es bestand aber auch die Möglichkeit, dass sie sich einfach nicht erinnern wollte.
    Als sie zur Schlafzimmertür kamen, starrte Unnur auf das Doppelbett. Das Oberbett lag auf dem Boden, am Kopfende waren zwei Kopfkissen. Genau wie das Wohnzimmer hatte der Raum einen Parkettfußboden. Zu beiden Seiten des Betts befanden sich zwei kleine Nachttische. Elínborg stellte sich vor, dass sie dem Zimmer eine gewisse Symmetrie verleihen sollten, denn Runólfur hätte ja nur einen für sich gebraucht. Auf beiden standen Leselampen. Genau wie alles andere in der Wohnung legten sie Zeugnis davon ab, dass der Besitzer Geschmack besessen hatte. Neben dem Bett lagen zu beiden Seiten kleine Bettvorleger. Runólfurs Sachen hingen ordentlich im Schrank, die Hemden waren sorgfältig zusammengefaltet, Socken und Unterwäsche lagen in Schubladen. Alles deutete darauf hin, dass Runólfur sein Leben völlig unter Kontrolle gehabt und Wert auf ein schönes Zuhause gelegt hatte.
    »Hier bin ich nie gewesen«, sagte Unnur, und die Erleichterung war ihr anzusehen. Sie war in der Schlafzimmertür stehen geblieben, so als würde sie sich nicht hineintrauen.
    »Bist du sicher?«, fragte Elínborg.
    »Ich spüre nichts«, sagte Unnur. »Ich kann mich nicht an diesen Ort erinnern.«
    »Wir haben Zeit.«
    »Nein, ich kann mich nicht erinnern, dass ich hier gewesen bin, weder hier noch an einem anderen Ort. Können wir jetzt gehen? Ich kann dir nicht behilflich sein. Leider. Ich fühle mich unwohl hier drinnen. Können wir gehen?«
    Unnurs Mutter sah Elínborg bittend an.
    »Selbstverständlich«, sagte Elínborg. »Vielen Dank, dass du das auf dich genommen hast.«
    »War sie hier drin?«
    Unnur ging einen Schritt in das Schlafzimmer.
    »Wir glauben, dass er an dem Abend, als er ermordet wurde, mit einer Frau zusammen war«, sagte Elínborg. »Er hatte kurz vor seinem Tod Geschlechtsverkehr.«
    »Die arme Frau«, sagte Unnur. »Sie ist nicht freiwillig hierhergekommen.«
    »Das ist möglich.«
    »Aber wenn er ihr eine Vergewaltigungsdroge eingeflößt hat, wie konnte sie ihn dann angreifen?«
    »Das wissen wir nicht. Wir wissen nicht, was hier geschehen ist.«
    »Darf ich jetzt nach Hause gehen?«
    »Natürlich, wann immer du möchtest. Vielen Dank, dass du gekommen bist, ich weiß, dass es nicht einfach für dich war.«
    Elínborg ging mit hinaus und verabschiedete sich vor dem Haus von ihnen. Sie sah hinter der Familie her, die die Straße entlangging, ein trauriger Anblick. Elínborg kam es so vor, als wären sie alle drei Opfer von Gewalt und Erniedrigung der schlimmsten Art, und dagegen konnten sie nichts tun, als im Stillen zu weinen.
    Elínborg zog den Mantel dichter um sich, ging zum Auto und überlegte, ob ihr wieder eine anstrengende schlaflose Nacht bevorstand.

Zwölf
    Fríða war ein ganz ähnlicher Typ wie Lóa. Sie war im gleichen Alter, aber ein wenig molliger, hatte dunkles Haar

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