Frevelopfer
auf den Wecker auf ihrem Nachttisch: 00:17.
Wieder begann sie, im Stillen von 10000 an rückwärtszuzählen.
9999, 9998, 9997, 9996 …
Auf diese Weise versuchte sie, ihr Gehirn frei zu machen, bis nichts mehr übrig war als Zahlen ohne jede Bedeutung. Das war ihre Methode, um den Geist zur Ruhe zu bringen und einschlafen zu können.
Wenn sie abends noch wach lag, konnte es manchmal vorkommen, dass ihre Gedanken zu einer Episode ihres Lebens zurückwanderten, an die sie sich nur ungern erinnerte. Sie hing mit ihrem ersten Ehemann zusammen. Elínborg, die nie unüberlegt handelte, sondern in großen wie in kleinen Dingen alles sehr sorgfältig abwägte, war eine Ehe eingegangen, von der sich herausstellte, dass sie auf Sand gebaut war.
Während ihres Geologiestudiums hatte sie einen Kommilitonen kennengelernt, der aus den Westfjorden kam und Bergsteinn hieß. Sein Name erweckte einige Heiterkeit an der Fakultät, was ihm gar nicht passte, weil er nicht imstande war, über sich selbst zu lachen. Er war ein eher verschlossener, aber dennoch sympathisch wirkender junger Mann. Auf der alljährlichen Exkursion der Geologiestudenten kamen sie sich näher. Sie trafen sich im Anschluss daran immer häufiger und wurden schließlich ein Paar. Sie mieteten eine gemeinsame Wohnung und lebten von ihren Studiendarlehen, die damals zu guten Konditionen vergeben wurden. Zwei Jahre später ließen sie sich auf dem Standesamt trauen und gaben ein rauschendes Fest für ihre Familien und Freunde. An diesem Tag hatte Elínborg geglaubt, dass sie zusammen glücklich werden würden, aber das erwies sich als Trugschluss.
Als die Ehe zu kriseln begann, hatte Elínborg die Geologie bereits an den Nagel gehängt und bei der Polizei angefangen. Bergsteinn hingegen promovierte in seinem Fach und bekam Arbeit und später einen leitenden Posten bei der staatlichen Firma für Erdbohrungen. In dieser Position nahm er an zahlreichen Konferenzen an allen möglichen Orten auf der ganzen Welt teil. Elínborg spürte damals schon seit einiger Zeit, dass irgendetwas schieflief. Darauf deutete nicht nur hin, dass er so häufig von zu Hause weg war, sondern auch sein Desinteresse an ihren Belangen, seine Einstellung zur gemeinsamen Zukunft und zu Kindern, die sich plötzlich geändert hatte. Zum Schluss gab er sehr betreten zu, dass er auf einer Konferenz in Norwegen eine andere Frau kennengelernt hatte, eine Isländerin, die sich auf Erdwärme spezialisiert hatte. Sie trafen sich seit mehr als einem halben Jahr regelmäßig, und er sah seine Zukunft an ihrer Seite. Elínborg amüsierte sich zunächst darüber, wie sehr er betonte, dass sie im geothermalen Bereich arbeitete. Vielleicht war das einfach ihre Reaktion darauf, dass diese Eröffnung so unerwartet kam. Und dann wurde sie wütend. Sie hatte keine Lust, sich seine Erklärungen und Entschuldigungen anzuhören, und noch weniger, mit einer anderen Frau um ihn zu kämpfen. Sie sagte ihm, er solle sich zum Teufel scheren.
Sie wusste nicht, weshalb er sich von ihr abgewendet und Zuflucht bei einer anderen gesucht hatte, ging aber davon aus, dass es an seinem Charakter lag und nichts mit ihr zu tun hatte. Sie hatte nicht das geringste Interesse daran, ihm zuzuhören, wie er ihre Ehe analysierte. Sie selbst war aufrichtig in ihrer Beziehung gewesen, hatte ihn respektiert und geglaubt, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte. Am schmerzhaftesten war es herauszufinden, dass dem nicht so war, am bittersten war die Zurückweisung, aber sie sprach mit niemandem darüber. Aus Elínborgs Sicht trug er die ganze Schuld daran, dass ihre Ehe gescheitert war, und so war es letzten Endes sein Problem, wenn er sich scheiden lassen wollte. Sie hatte nicht vor, ihm hinterherzulaufen. Die Scheidung ging sang- und klanglos über die Bühne. Bergsteinn hatte die Ehe zerstört und bekam den Stuhl vor die Tür gesetzt. So einfach war das.
Bei einem Abendessen, das aus völlig geschmackloser Leber mit brauner Zwiebelsoße bestand, erklärte Elínborgs Mutter, dass sie Bergsteinn nie wirklich gemocht hatte, ihrer Meinung nach war er ein unbedarfter und labiler Typ.
»Ach, Mama, nun lass das«, sagte Elínborg und pickte an ihrer Leber herum.
»Aber er war nun mal schon immer ein Depp«, sagte ihre Mutter.
Elínborg wusste, dass ihre Mutter sie moralisch unterstützen wollte, denn sie kannte ihre Tochter und spürte, dass der Schmerz tiefer ging, als Elínborg nach außen hin zeigte. Sie war niedergeschlagen und hatte
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