Frevelopfer
Nachrichten von brutalen Überfällen in der Innenstadt, von wachsender Gewalttätigkeit in Verbindung mit Drogenkonsum und von Vergewaltigungen trugen nicht dazu bei, ihre Besorgnis zu verringern, und sie erinnerten sie immer wieder daran, ihr Handy dabeizuhaben. Falls irgendetwas passierte, sollte sie sofort zu Hause anrufen. Sie hatten sich auch Sorgen gemacht, als ihre Brüder anfingen, die Nächte durchzufeiern.
Nichts Ernsthaftes war je passiert. Irgendwann war ihnen auf einer Reise in den sonnigen Süden eine Brieftasche gestohlen worden. Vor zwei Jahren hatte der jüngere Sohn einen Autounfall gehabt, an dem er die Schuld trug. Sie waren darum bemüht gewesen, ein friedliches und unbescholtenes Leben zu führen, und waren anderen Menschen mit Freundlichkeit und Respekt begegnet. Konráð und seine Frau standen bei allem, was sie in Angriff nahmen, Seite an Seite. Sie hatten einen großen Freundeskreis und unternahmen gerne Reisen im In- und Ausland.
Sie hatten es aus eigenen Kräften im Leben zu etwas gebracht und waren stolz auf das, was sie besaßen, stolz auf ihre Kinder. Beide Söhne lebten in einer festen Verbindung. Der ältere in San Francisco war mit einer Amerikanerin verheiratet, die genau wie er in der medizinischen Ausbildung war. Sie hatten ein Kind. Die kleine Tochter trug den Namen ihrer isländischen Großmutter. Der jüngere lebte seit zwei Jahren mit einer Frau zusammen, die in der Großkundenabteilung einer Bank tätig war. Nína hingegen hatte sich noch nicht festgelegt. Ein Jahr lang hatte sie eine Beziehung zu einem jungen Informatiker gehabt, aber seitdem die zu Ende gegangen war, lebte sie allein.
»Sie ist immer zurückhaltend und genügsam gewesen«, sagte Konráð zu Elínborg und stellte das Foto wieder an seinen Platz. »Sie hat nie Probleme gemacht. Sie hat viele Freunde, aber fühlt sich am wohlsten, wenn sie sich selbst überlassen ist. Sie ist einfach so. Und sie hat noch nie auch nur einer Fliege etwas zuleide getan.«
»Danach wird wohl nicht gefragt«, sagte Elínborg.
»Nein«, sagte Konráð, »so viel steht fest.«
»Was hat sie gesagt, als sie angerufen hat?«
»Etwas, was überhaupt nicht zu verstehen war, ein unterdrückter Angstschrei, Entsetzen, Weinen, Panik, alles im gleichen Laut. Sie konnte kein Wort hervorbringen. Ich wusste, dass der Anruf von ihrem Handy kam, denn ihr Name erschien auf dem Bildschirm, und deswegen dachte ich zuerst, dass es ihr gestohlen worden war. Ich erkannte nicht einmal ihre Stimme. Dann hörte ich, dass sie Papa sagte, und dann war mir klar, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste. Ihr musste etwas Grauenvolles passiert sein.«
»Papa«, hörte er sie unter heftigem Schluchzen stöhnen.
»Ganz ruhig, mein Kind«, sagte er. »Versuch, dich zu beruhigen.«
»Papa … Kannst du kommen?«, weinte sie. »Du … musst … musst … Du musst kommen.«
Ihre Stimme brach. Er hörte seine Tochter am anderen Ende der Leitung wimmern. Er war inzwischen aufgestanden und ging nun ins Wohnzimmer. Seine Frau folgte ihm mit besorgter Miene.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Es ist Nína«, sagte er. »Bist du noch dran, mein Schatz?«, fragte er. »Nína? Sag mir, wo du bist. Schaffst du das? Kannst du mir sagen, wo du bist? Ich komme sofort und hole dich.«
Er hörte nur das Weinen seiner Tochter.
»Nína! Sag mir doch, wo du bist.«
»Ich bin … in der Wohnung … bei ihm in der Wohnung.«
»Bei wem?«
»Papa, du … du musst kommen. Du darfst … nicht die Polizei verständigen.«
»Wo bist du? Bist du verletzt? Hast du einen Unfall gehabt?«
»Ich weiß nicht, was … was ich getan habe. Es ist entsetzlich. Es … entsetzlich. Papa!«
Seine Tochter hatte wieder angefangen zu schluchzen, und er hörte nichts als unterdrückte Jammerlaute.
»Sprich mit mir, mein Liebes. Sag mir, wo du bist. Kannst du das? Sag mir nur, wo du bist, und ich hole dich. Ich komme sofort.«
»Da ist Blut überall, und er liegt auf dem Boden. Ich trau mich … Ich trau mich nicht in den Flur.«
»Was ist das für ein Haus, mein Liebes?«
»Wir waren zu Fuß. Wir sind zu Fuß hier hingegangen. Du … Papa! Du darfst nicht kommen, du darfst dich hier nicht blicken lassen. Was soll ich tun? Du musst allein kommen. Nur du! Du musst mir helfen.«
»Ich komme und hole dich. Weißt du, wie die Straße heißt?«
Er hatte bereits angefangen, sich anzuziehen, schlüpfte in seine Trainingshose und zog sich eine Jacke über das
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