Frevelopfer
unterhalb. Von da aus sind wir zum Auto gegangen und nach Hause gefahren. Ich habe vollkommen falsch reagiert. Ich dachte, ich könnte meine Tochter damit schützen, uns alle schützen, unser Privatleben, aber ich fürchte, ich habe alles nur schlimmer gemacht.«
»Ich muss mit deiner Tochter sprechen«, sagte Elínborg.
»Selbstverständlich«, erwiderte Konráð. »Ich habe ihr und meiner Frau gestern von deinem Besuch erzählt. Ich glaube, wir sind alle froh, dass das Versteckspiel vorbei ist.«
»Ich glaube, euch stehen schwierige Zeiten bevor«, sagte Elínborg und stand auf.
»Wir haben uns noch nicht getraut, es ihren Brüdern zu sagen. Es ist … Wir sind vollkommen ratlos. Wie sollen wir ihnen beibringen, dass ihre Schwester einem Mann die Kehle durchgeschnitten hat? Einem Mann, der sie vergewaltigt hat.«
»Das kann ich gut verstehen.«
»Das arme Kind. Was sie durchgemacht hat!«
»Wir sollten jetzt zu ihr gehen.«
»Wir möchten nur, dass sie eine gerechte und faire Behandlung bekommt«, sagte Konráð. »Dieser Mann hat ihr etwas Böses angetan, und sie hat darauf reagiert. Unserer Meinung nach solltet ihr in erster Linie diesen Aspekt im Auge behalten. Es war Notwehr. Sie musste sich doch wehren, was hätte sie denn anderes tun sollen?«
Zweiundzwanzig
Nína lebte in einer kleinen Mietwohnung in der Fálkagata. Konráð rief dort an und sagte, dass er mit der Kriminalpolizei auf dem Weg zur ihr sei. Seine Frau war bei ihrer Tochter und nahm den Anruf entgegen. Konráð bat sie, Nína auszurichten, dass es nun ausgestanden sei. Er fuhr vor Elínborg her zur Fálkagata und hielt vor einem Mehrfamilienhaus. Sie betraten das Haus zusammen und gingen in die erste Etage hinauf. Konráð drückte auf die Klingel, und eine Frau in seinem Alter öffnete die Tür. Sie sah Elínborg mit sehr besorgter Miene an.
»Bist du ganz allein?«, fragte sie. »Ich habe gar keine Polizeiautos gesehen.«
»Ja«, antwortete Elínborg. »Ich erwarte hier keine Schwierigkeiten.«
»Nein«, sagte die Frau und schüttelte Elínborgs ausgestreckte Hand. »Hier wird es keine Schwierigkeiten geben. Komm herein.«
»Kann ich mit Nína sprechen?«, fragte Elínborg.
»Ja, sie erwartet dich. Wir sind froh, dass dieses absurde Versteckspiel jetzt vorüber ist.«
Sie gingen ins Wohnzimmer, wo die völlig verweinte Nína sie mit vor der Brust verschränkten Armen erwartete. Konráð folgte ihnen.
»Hallo, Nína«, sagte Elínborg und streckte die Hand aus. »Ich heiße Elínborg, ich bin von der Kriminalpolizei.«
Nína ergriff die Hand mit einem feuchten und kraftlosen Händedruck. Sie machte keinen Versuch zu lächeln.
»Schon klar«, sagte sie. »Hat Papa dir gesagt, was passiert ist? Wie das alles war?«
»Ja, er hat mir das aus seiner Sicht erzählt. Nun müssen wir mit dir reden.«
»Ich weiß nicht, was geschehen ist«, sagte Nína. »Ich kann mich an nichts erinnern.«
»Nein, das ist schon in Ordnung. Wir haben genügend Zeit.«
»Ich glaube, er hat mir eine Droge verabreicht. Ihr habt doch so etwas bei ihm gefunden.«
»Ja. Deine Eltern können dich zum Hauptdezernat begleiten, aber dort müssen wir beide uns dann unter vier Augen unterhalten, verstehst du? Ist das in Ordnung?«
Nína nickte zustimmend.
Elínborg warf einen Blick in die Küche, in der es ganz ähnlich roch wie bei ihr zu Hause, der Duft von Gewürzen aus fernen Welten, von einer Kochkunst, die ihr so vertraut und doch so fremd war. Neben der Spüle stand ein Tandoori-Topf.
»Ich habe auch eine Vorliebe für indische Küche«, sagte sie lächelnd.
»Wirklich?«, sagte Nína. »Ich hatte gerade ein paar Leute zum Essen eingeladen, an dem Abend, als es … als …«
»Ich habe dein Tuch«, sagte Elínborg. »Das hattest du an dem Abend dabei. Der Geruch sagte mir, dass du etwas Indisches gekocht hattest.«
»Das Tuch haben wir vergessen«, sagte Nína. »Papa hat alles mitgenommen, was er gesehen hat. Ich habe nicht mehr an das Tuch gedacht.«
»Und an das T-Shirt.«
»Ja, und an das T-Shirt.«
»Wir müssen die Jungen benachrichtigen, bevor alles losgeht, bevor es an die Medien geht«, sagte Konráð.
»Wenn ihr möchtet, könnt ihr das vom Dezernat aus machen«, sagte Elínborg.
Auf dem Weg zum Hauptdezernat an der Hverfisgata fuhr Konráð diesmal hinter Elínborg her. Im Dezernat angekommen, wurde Nína ins Verhörzimmer gebracht, und ihre Eltern warteten unterdessen in Elínborgs Büro. Es sprach sich schnell herum, dass
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