Frevelopfer
die Kriminalpolizei im Þingholt-Mord, wie er in den Medien genannt wurde, weitergekommen war, und die ersten Journalisten riefen an. Der Antrag auf Untersuchungshaft wurde ans Bezirksgericht weitergeleitet.
Konráð hatte einen Rechtsanwalt hinzugezogen. Das hatte er schon vorher in die Wege geleitet, denn er wusste, wen er haben wollte. Der Mann war bekannt für seine Erfolge in Strafprozessen. Er hatte alle anderen Termine abgesagt und war ebenso wie der Ermittlungsrichter anwesend, als der Antrag auf U-Haft behandelt wurde. Der jüngere Sohn traf seine Eltern in Elínborgs Büro. Er hatte seinen Ohren nicht trauen wollen, als seine Mutter ihm gesagt hatte, was passiert war. Ungläubigkeit und Verwunderung verwandelten sich jedoch bald in Wut, zuerst auf die Eltern, weil sie alles vor ihm geheim gehalten hatten, und dann auf Runólfur.
Elínborg hatte großes Mitleid mit Nína, die zusammengekauert im Verhörzimmer saß und der Dinge harrte, die da kommen würden. Sie wirkte nicht wie eine kaltblütige Mörderin, sondern wie ein verängstigtes Opfer, das eine entsetzliche Erfahrung hinter sich und eine schwere Zeit vor sich hatte.
Sie war bereit und willens, sich alles von der Seele zu reden, jetzt, wo endlich alles über ihre Bekanntschaft mit Runólfur herausgekommen war. Dass sie die Frau war, die bei ihm gewesen war, als er starb. Sie schien froh zu sein, sich endlich das Herz erleichtern und die Wahrheit sagen zu können, damit der lange Prozess, der zum Schluss zu Einsicht, Erkenntnis und Aussöhnung führen würde, beginnen konnte.
»Kanntest du Runólfur, bevor du ihn an dem bewussten Abend getroffen hast?«, fragte Elínborg, als alle formellen Dinge erledigt waren und das Verhör beginnen konnte.
»Nein«, sagte Nína.
»Ist er nicht zwei Monate zuvor zu dir nach Hause gekommen?«
»Doch, aber gekannt habe ich ihn deswegen nicht.«
»Kannst du mir sagen, was sich damals abgespielt hat?«
»Da war nichts. Da hat sich nichts abgespielt.«
»Du brauchtest einen Telefontechniker, nicht wahr?«
Nína nickte.
* * *
Sie wollte ihren Fernseher im Schlafzimmer aufstellen, und dazu musste ein neues Kabel durch die Wand ins Schlafzimmer gelegt werden. Den Telefonanbieter hatte sie auch gewechselt, und deswegen gab es Probleme mit dem Wireless- lan . Sie wollte ihren Laptop überall in der Wohnung verwenden können. Das würde der Kundendienst für sie erledigen, hatte eine Frau am Telefon gesagt, als sie bei dem Telefonanbieter angerufen hatte. Noch am gleichen Tag stand der Telefontechniker vor ihrer Tür. Es war ein Montag.
Er war sehr freundlich und gesprächig und ungefähr zwei oder drei Jahre älter als sie. Er machte sich sofort zielstrebig ans Werk. Sie achtete nicht sonderlich darauf, was er tat, sie hörte, wie er in ihrem Schlafzimmer bohrte. Er musste eine Fußbodenleiste entfernen, um das Fernsehkabel dahinter zu verstecken. Es war ihr nicht so vorgekommen, als hätte er sich auffallend lange in ihrem Schlafzimmer aufgehalten. Daran hatte sie damals keinen Gedanken verschwendet, erst später, als alles vorbei war.
Er richtete die Netzverbindung für sie ein und unterhielt sich mit ihr über dieses und jenes, unverbindliche Floskeln unter Leuten, die sich nicht kennen, und dann verabschiedete er sich.
Am nächsten Morgen beendete er die Arbeit. Und dann stand er am späten Nachmittag noch einmal vor der Tür und fragte sie, ob sie vielleicht den Betonbohrer gefunden hätte, den er verwendet hatte, als er die Wand zwischen Wohnzimmer und Schlafzimmer durchgebohrt hatte. Sie hatte ihn nicht bemerkt.
»Hast du etwas dagegen, wenn ich mich kurz danach umschaue?«, fragte er. »Ich bin auf dem Weg nach Hause. Mir fiel ein, dass er hier sein könnte. Ich kann ihn nämlich nirgends finden, und ich brauche ihn so oft.«
Sie gingen ins Schlafzimmer, und sie half ihm bei der Suche. Das Fernsehkabel führte durch einen Einbauschrank, den Nína öffnete. Er suchte das Fensterbrett ab und schaute unters Bett. Schließlich gab er auf.
»Entschuldige bitte die Störung«, sagte er. »Ich verliere andauernd etwas.«
»Ich melde mich, falls ich ihn finde«, sagte sie.
»Kein Problem«, sagte er. »Das sind wahrscheinlich die Nachwirkungen vom Wochenende. Ich bin am Samstagabend wohl zu lange im Kaffi Victor geblieben.«
»Das kenne ich«, sagte sie lächelnd.
»Gehst du vielleicht auch manchmal dorthin?«
»Nein, wir gehen meist ins Kráin.«
»Ihr?«
»Meine Freundinnen und ich.«
»Du sagst
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