Frevelopfer
Ruhe«, sagte Eðvarð.
»Danke für deine Hilfe«, sagte Elínborg.
»Lass mich in Ruhe«, wiederholte Eðvarð. »Lass mich bloß in Ruhe.«
Vierundzwanzig
Die offiziellen Verhöre von Vater und Tochter begannen früh am nächsten Morgen unter Elínborgs Leitung. Nína wurde als Erste ins Verhörzimmer geführt, wo Elínborg sie erwartete. Im Anschluss daran war ihr Vater an der Reihe. Nína machte einen ruhigen und gelassenen Eindruck, als sie Elínborg begrüßte. Sie war zur Anlaufstelle für die Opfer von Vergewaltigungen gebracht worden und hatte psychische Betreuung erhalten.
»Hast du ein wenig schlafen können?«, fragte Elínborg.
»Ja, ein bisschen, zum ersten Mal seit vielen Tagen«, sagte Nína, die neben ihrem Rechtsanwalt saß, einem Mann um die fünfzig. »Hast du gut geschlafen?«, fragte sie anklagend. »Papa hat nichts getan. Er ist mir bloß zu Hilfe gekommen. Er ist unschuldig.«
»Hoffen wir es«, sagte Elínborg.
Sie erwähnte nicht, dass sie selbst nur mithilfe einer Schlaftablette Ruhe gefunden hatte. So etwas machte sie ganz selten und nur im äußersten Notfall, denn am liebsten nahm sie überhaupt keine Medikamente, egal, wogegen sie helfen sollten. Aber sie hatte schon einige Nächte lang Schlafprobleme gehabt, war übernächtigt zum Dienst erschienen, und das konnte nicht so weitergehen. Als sie zu Bett ging, hatte sie sich die kleine Pille unter die Zunge gesteckt und wie ein Stein bis zum nächsten Morgen geschlafen.
Wie tags zuvor begann Elínborg damit, das durchzugehen, was Nína vor der Begegnung mit Runólfur unternommen hatte. Nína war vollkommen sicher in ihrer Aussage, sie sprach deutlich und entschlossen, als wäre sie jetzt endlich bereit, sich allem zu stellen, was vorgefallen war, auch der neuen Lage, in der sie sich befand, und der Prozedur, die ihr bevorstand. Sie wirkte etwas entspannter als am Tag zuvor, so als seien der trübe Dunst dieses Albtraums, die Verdrängung und die Angst endlich der Realität gewichen, vor der man nicht fliehen konnte.
»Als dein Vater dir zu Hilfe kam, wie du ausgesagt hast, wie ist er in die Wohnung hineingekommen?«, fragte Elínborg.
»Das weiß ich nicht. Ich glaube, die Tür war nicht ganz zu, zumindest war sie wahrscheinlich nicht verschlossen. Er war auf einmal da.«
»Du hast ihm nicht aufgemacht?«
»Nein, das habe ich nicht, ich glaube jedenfalls nicht, dass ich das getan habe. Ich erinnere mich nicht daran. Ich war in einer grauenvollen Verfassung. Das muss er dir aber sagen können.«
Elínborg nickte. Konráð hatte ihr gesagt, dass die Tür nicht ganz zu gewesen war, als er zu der Wohnung kam.
»Du bist nicht in den Flur gegangen und hast sie geöffnet?«
»Ich glaube nicht.«
»Du hast nicht vorgehabt davonzulaufen, aber es dir an der Tür anders überlegt?«
»Ich erinnere mich nicht. Es könnte gut sein. Ich weiß nur, dass ich mein Handy gefunden und Papa angerufen habe.«
»Glaubst du, dass Runólfur selber die Tür geöffnet hat?«
»Das weiß ich nicht«, erklärte Nína und hob die Stimme. »Ich schwöre es. Ich kann mich kaum erinnern, was passiert ist. Er hat mich mit einem Mittel betäubt, das Gedächtnislücken hervorruft. Was soll ich denn deiner Meinung nach sagen? Ich erinnere mich nicht daran. Ich erinnere mich an gar nichts!«
»Ist es möglich, dass du deinen Vater angerufen hast, bevor Runólfur gestorben ist? Dass dein Vater dir zu Hilfe kommen wollte und Runólfur attackiert hat?«
»Nein.«
»Bist du dir da sicher?«
»Ich habe dir das doch gesagt, ich bin allein in der Wohnung aufgewacht. Ich ging nach vorn, und da lag Runólfur. Danach habe ich meinen Vater angerufen. Weshalb glaubst du mir nicht? Das ist das Einzige, woran ich mich erinnern kann. Wahrscheinlich habe ich mich auf Runólfur gestürzt und …«
»In der Wohnung deutet so gut wie gar nichts darauf hin, dass es zu einem Kampf gekommen ist«, sagte Elínborg. »Der Mord war sehr sauber, wenn man das so ausdrücken kann, abgesehen natürlich von dem ganzen Blut. Dir ist es gelungen, dich an ihn heranzuschleichen und ihm sehr fachmännisch die Kehle durchzuschneiden. Glaubst du, dass du zu so etwas fähig sein könntest?«
»Vielleicht in einer ausweglosen Situation. Oder wenn ich gezwungen wäre, mich zu wehren. Zu was ich in zugedröhntem Zustand fähig bin, weiß ich nicht.«
»Laut der Aussage deiner Mutter war aber kein Blut an dir.«
»Das weiß ich nicht mehr. Ich bin unter die Dusche gegangen, als ich
Weitere Kostenlose Bücher