Friedemann Bach
verkrochen hatte, lag in jenem Stadtviertel der Armut und des Lasters um den Alexanderplatz herum, das von einem ehrbaren Bürger nie betreten wurde. In einem engen, schmutzigen Quergäßchen der Linienstraße, das von Trödlern, Kesselflickern, Buhldirnen und allerlei lichtscheuem Gesindel bewohnt wurde, besaß auch ein armer Sargmacher ein schon recht baufälliges Häuschen, und in die vier undichten Wände der kleinen, schrägen Dachkammer dieser Baracke teilten sich ein ewig betrunkener Flötist und Friedemann Bach.
Wenn der lange, magere, verwitterte Kerl, in schäbige Lumpengarderobe gehüllt, sein Versteck verließ, um sich in irgendwelchen Budiken, in den Zelten oder in Moabit, des Leibes Notdurft zu erspielen, geschah es oft, daß mitleidige Seelen ihm ein Gläschen Schnaps nach dem anderen zuschoben; er verschmähte keines, wurde in der Trunkenheit aber etwas wunderlich, sprach viel und überheblich oder war schweigsam und finster. Leicht wurde er dann gemein, während er sonst nur grob war.
Von dieser Grobheit konnten besonders die Musikmeister ein Lied singen; denn wenn »es über ihn kam«, tauchte er plötzlich bei einer musikalischen Veranstaltung, einer Opernaufführung, einem Kirchenkonzert auf, schnauzte den Violinisten, den Zimbalspieler oder Organisten an: »Steh auf, los!« und nahm seinen Platz ein. Niemand widersetzte sich ihm, und man durfte sicher sein, daß dem Auditorium ein vollendeter, nicht zu überbietender Kunstgenuß bevorstand. Im Anfang seines Auftretens hatten manche Kapellmeister versucht, dieses seltene Genie für sich zu gewinnen; aber er schlug einen ihm angetragenen festen Posten entweder rundweg ab, oder er versah sein Amt so liederlich, gab sich so hochmütig und selbstbewußt, daß sie froh waren, wenn sie ihn wieder abgestoßen hatten. In diesen Zeiten komponierte er auch noch zuweilen, konnte aber seine Partituren nie an den Mann bringen. Wer wollte schon was mit dem »tollen Musiker«, diesem verkommenen, groben, unheimlichen Kerl, zu schaffen haben?!
Über den »tollen Musiker« unterhielten sich auch Naumann und Plümicke, der der Einladung des Komponisten zu einem kleinen Frühstück mit Rheinwein und Lachs um so lieber nachgekommen war, als ihm der Auftrag zum Libretto einer neuen Oper des Dresdeners winkte.
»Erklären Sie mir, um Himmels willen, lieber Plümicke«, sagte Naumann, »wieso Frau von Eichstädt beim Vernehmen seiner Stimme in solche Bewegung geriet, warum Sie und Mendelssohn bis in die Nacht hinein Jagd auf den Alten machten?!« Plümicke zuckte, eingedenk seines gegebenen Wortes, die Schultern, und der andere fuhr fort: »Der Mensch muß jedenfalls gewußt haben, daß ich konzertiere; denn nach Ihrem Weggang erzählte der Diener der Gnädigen, daß der Mann schon lange zugehört habe und, als ich Reichardts Lied sang, sich erkundigte, wer da oben Musik mache. Hat er mich oder Frau von Eichstädt insultieren wollen?«
»Sie müssen die Geschichte nicht wichtiger nehmen als sie ist! Ich glaube nicht, daß der Mann Ihnen eine Beleidigung zufügen wollte; es liegt so in seiner tollen Manier, seine Nase überall hineinzustecken, wo sich's um Töne handelt. Was nun unsere gute Freundin anbelangt, so werden Sie längst von ihren Marotten unterrichtet sein, allem, was zur Tonkunst gehört, nachzuspüren. Irgendein Vorgang in der Familie, der Verlust eines musikalischen Freundes ... was weiß ich!«
Das Gespräch wurde durch Naumanns Bedienten unterbrochen: »Herr Kapellmeister, mit Respekt zu vermelden, draußen steht ein Mensch, der sehr schofel aussieht, aber den Herrn unbedingt sprechen will. Er sagt, wegen der Bachschen Sonate von gestern abend.«
Naumann fuhr auf, aber Plümicke sagte rasch: »Lassen Sie ihn auf jeden Fall herein!«
Die Tür öffnete sich, der alte Musiker trat ein, und der Opernkomponist ging mit vornehmer Miene auf ihn zu: »Was will Er? Will Er vielleicht seine ungewaschene Kritik fortsetzen? Er sieht gerade aus, als ob Er mich verbessern könnte!«
»I, das will ich gar nicht! Sie will ich nicht verbessern, Herr Kapellmeister -- wer möchte so etwas tun, wenn er Ihren dicken Bauch und das Fettgesicht sieht? -- aber die Sonate will ich verbessern! Die ist falsch! Den Schluß hat Bach nicht gemacht! Von Ihrem Spiel red' ich nichts, das ist leidlich, aber die Komposition ist verhunzt. Wer Bachsche Sachen spielt, der soll sie richtig spielen -- oder es ganz bleiben lassen!«
Naumann war außer sich vor Zorn: »Ist mir sowas
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